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Vom Neandertal in die Philharmonie

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Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann, versucht der Musikphysiologe Eckart Altenmüller zu ergründen

Der Evolutionspsychologe und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker meinte ja mal, dass Musik lediglich „akustischer Käsekuchen“ sei, eine wohlschmeckende Delikatesse zwar, die aber für die menschliche Evolution und Arterhaltung keine Rolle gespielt habe. In der Tat erstaunlich, dass Homo sapiens (und vielleicht auch schon der Neandertaler) vor Zehntausenden von Jahren mit dem Musizieren begonnen hat. Kostet Zeit, die dann zum Jagen und Sammeln fehlt, und verursacht Geräusche, die ungünstigenfalls feindlich gesonnene Artgenossen auf den Plan rufen können. Das kann auch heut noch jeder leidvoll erleben, der einmal versucht hat, an einem schönen Sonntagnachmittag in seinem Garten ein wenig auf der Djembe zu trommeln. Denn nicht jede künstlerische Ambition wird von den Rezipienten auch als solche erkannt, wie schon Wilhelm Busch wusste: „Musik wird oft nicht schön gefunden / weil stets sie mit Geräusch verbunden.“

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Was also ist und ab wann sind Töne „Musik“? Sind es schon die Gesänge der Buckelwale, das Froschkonzert am abendlichen Weiher? Ein kollektives Summen am steinzeitlichen Lagerfeuer? Oder erst Beethoven, die Beatles und computergenerierter Techno? Der Neurowissenschaftler und Musiker Eckart Altenmüller, Professor an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, untersucht das Phänomen ziemlich umfassend in seinem Buch „Vom Neandertal in die Philharmonie“ und versucht darin eine Antwort zu geben, wie und warum Singen und Musizieren Teil unseres Mensch-seins, eine „anthropologische Konstante“, ist. Und er findet, soviel sei schon mal verraten, eine recht ‚tolerante‘ Definition dafür:

„Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen.“

Die meisten von uns haben wohl schon erlebt, dass Musik starke Emotionen auslösen kann. Von einer leichten Gänsehaut bis zum Rhythmus-wo-ich-mit-muss, von romantischer Tagträumerei bis zur sexuellen Stimulanz. Aber auch vom Angeekelt-sein beim Junggesellenabschiedsgegröle und beim Bierzelt-Humptata bis hin zu Grusel und Panik bei Neonazi-Geschrammel und martialischer Marschmusik. Diese unterschiedliche Wirkung von Musik ist ein zentrales Thema in Altenmüllers Buch. Nicht nur die Wirkung auf jene, die sie rezipieren, sondern auch als emotionales Eigenfeedback ihrer Erzeuger. Dass dabei auch die neuronalen Vernetzungen im Gehirn um- und ausgebaut werden können, bestätigen laut Altenmüller aktuelle Neuro-Forschungen. Singen, Musizieren und Hören formen das Gehirn, indem „die Gehörbildung neuronale Netzwerke kreiert“. Diese „Neuroplastizität“ könne auch zu medizinisch heilsamen Effekten führen, etwa bei Schlaganfallpatienten zur Verbesserung der Motorik, bei Demenz und Alzheimer als „Mittel gegen das Vergessen“.

Den Ursprung der Musik verortet Altenmüller schon bei den frühen Hominiden, noch vor der Sprache entstanden als Erweiterung ihrer emotionalen Kommunikation im Sozialverband. Möglicherweise um „ihre Artgenossen durch einfache melodische Laute auf reiche Fanggründe oder lauernde Gefahren aufmerksam zu machen.“ Aber auch, um „das Lebensgefühl zu verbessern, den Mutter-Kind-Kontakt zu vertiefen und die Gruppe zu organisieren und zu stärken.“ Und wahrscheinlich diente Musik auch schon früh zur Partnerwerbung, wie bereits der von Altenmüller zitierte Charles Darwin vermutete, „… dass die Vorfahren des menschlichen Geschlechts, bevor sie sich ihrer Liebe in artikulierter Sprache zu erklären vermochten, einander mit Hilfe musikalischer Töne und Rhythmen zu gewinnen bemüht waren.“ Genaues über das Wann und Wie der frühen Musikentwicklung ließe sich aber nicht wissenschaftlich belegen, die ältesten bisher gefundenen Musikinstrumente (Knochenflöten auf der Schwäbischen Alb) seien gerade mal 43000 Jahre alt. Und was im Neandertal musikalisch so geboten war, bleibt natürlich auch spekulativ…

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Älteste Flöte vom Hohle Fels / Schwäbische Alb

Jedenfalls ist für Altenmüller Musik von ihren Anfängen bis heute hauptsächlich eine akustische Form emotionaler Kommunikation. Er erläutert das sehr anschaulich an vielen Sound-Beispielen (die man bequem über eingedruckte QR-Codes aufrufen und begleitend zur Lektüre auf’m Handy abspielen kann); wie etwa an Bachs Matthäus-Passion u.a., die beim Hörer die Belohnungszentren des limbischen Emotionssystems aktivieren können. Dabei werden Dopamin und Endorphine ausgeschüttet, die uns manchmal Phänomene wie „Chill-Reaktionen“ und „Gänsehautmomente“ bescheren. Allerdings solle man sich hüten, von einer Universalität der musikalischen Emotionen auszugehen, da sowohl kulturelle Prägungen als auch die subjektive Verfasstheit, oft auch der Umgebungsrahmen und situative Gruppenstimmungen Einfluss auf die Wirkung von Musik nehmen. Ganz zu schweigen von der Minderheit, die kaum oder gar nicht darauf reagiert.

Bei all den vielen naturwissenschaftlichen Erläuterungen aus Hirnforschung, Psychologie, Evolution, Archäologie, Medizin, Musikwissenschaft, Akustik, Musiktherapie und Musikdidaktik auf gut 500 Seiten verstösst Altenmüller auch nicht gegen das Diktum von Leonhard Bernstein: „Wer versucht, die Schönheit der Musik zu erklären,nimmt ihr das Geheimnisvolle.“ Denn aus Altenmüllers Liebe zum Detail emergiert seine Faszination des Phänomens Musik in toto, das eben mehr ist als Klangerzeugung, Schallwellen und Hirnströme. Für alle Leser gut nachvollziehbar, denn das Buch ist informativ, unterhaltsam (bei einigen Themenfeldern richtig spannend), multimedial erfahrbar und leicht verständlich geschrieben. Und man glaubt ihm gern, wenn er am Ende (den bei diesem Thema fast unvermeidlichen) Nietzsche zitiert, dass nämlich ohne Musik „das Leben ein Irrtum“ sei.

Vom Neandertal in die Philharmonie: Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann

Eckart Altenmüller

Springer Verlag – 525 Seiten

ISBN-13: 978-3827416810

 


wf

 

2 Gedanken zu „Vom Neandertal in die Philharmonie“

  1. In der „Internationalen Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik“ erschien kürzlich eine interessante Arbeit zum Thema:
    „Der Wille hinter den Emotionen in der Musik „“ Die Strebetendenz-Theorie beantwortet eine alte Frage“

    von Daniela Willimek und Bernd Willimek

    Zusammenfassung:Trotz interdisziplinärer Kooperation mit verwandten Wissenschaftszweigen wie etwa Musikpsychologie hat die Musikwissenschaft die vielleicht interessanteste Frage innerhalb der Musikbetrachtung bis heute nicht be-antwortet: Warum und wie wirkt Musik emotional? Mit der Strebetendenz-Theorie stellen die Autoren dieser Arbeit eine neue Perspektive zur Beantwortung dieser Frage zur Diskussion. Diese Theorie geht aus der Lehre Ernst Kurths hervor und beschreibt die emotionale Wirkung von Klängen als Folge von Identifikationen mit Willensinhalten, die in der Musik encodiert sind. Erst aufgrund dieser Identifikationen, so die Theorie, erfahre der Hörer die Musik emotional. Im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit wird die Theorie formuliert, hergeleitet und als Modell zur praktischen Anwendung beschrieben. Der dritte Teil zeigt Möglichkeiten auf, dieses Modell auf einzelne Klangbeispiele anzuwenden und deren emotionale Wirkung auf den Hörer nachvollzieh-bar zu begründen.

    Den ganzen Artikel gibts hier als PDF: http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_1-2020/008_Willimek_1_2020.pdf

  2. „Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen.“
    Das entspricht so nicht meinem Erleben. Es gibt Lieder, also Musik mit Worten, und auch gesprochene Sprache ist in gewisser Weise ein Lied, mit ihrem eigenen Rhythmus und ihrer eigenen Melodie, die von Sprache zu Sprache variiert. Ich reagiere sehr stark auf Lieder, die ich auch auf verbaler Ebene nachvollziehen kann, deren Text. aber in einfacher Sprache oder als geschriebener Text banal erscheint, bedeutungslos. Eigentlich reagiere ich sogar auf Lieder emotional stärker als auf reine Instrumentalmusik.
    Das mit der Strebetendenz ist für mich hochinteressant. Das ist pure Phänomenologie. Endlich mal eine Musiktheorie, die nicht mit Mathematik korreliert ist!

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