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Der Jazz als Wille und Vorstellung

„Ich improvisiere, also bin ich.“
Hätte Gert Scobel als Motto für seine letzten „Musikalischen Gespräche“ mit einigen Spitzenkönnern der deutschen Jazzszene wählen können, wenngleich der philosophische Anspruch dieser 3sat-Sendung sich im Wesentlichen auf die allegorische Deutung der Improvisation als Sinnbild für das permanente selbstorganisatorische Werden des Lebens beschränkte.

Dabei hätte sich der Brückenschlag zu Fragen der Determiniertheit unserer Willensentscheidungen und  den entsprechenden neurophysiologischen Grundlagen geradezu angeboten. Flüssige und kreative Improvisation auf höchstem Niveau setzt die blitzschnelle Antizipation des nächstmomentigen Klangbildes voraus, wobei die Umsetzung dieser Vorstellung dem Musiker einige Wahlfreiheit lässt – deshalb klingt das gleiche Stück von denselben Musikern live gespielt immer sowohl stimmungsabhängig als auch  bewusst (!) anders.

Man spricht von spieltechnischer Freiheit, wenn all die Aspekte der Wahl der Töne, der Intonation, der Dynamik, der Tonlänge und Rhythmisierung etc. beherrscht werden und nach ‚menschlichem Ermessen‘ sofort und praktisch gleichzeitig zu einem neuen Ausdruck emergieren.
Dabei ist allerdings kein supranaturalistischer ‚Finger Gottes‘ im Musikantenspiel, sondern es setzt durch jahrelange intensive Vorarbeit und Chunking die Ausbildung von entsprechenden Repräsentationen im Unterbewussten voraus; nur dann können die ‚magischen Momente‘, das Loslassen und Fließen, diese ‚Ereignisdichte ohne Nachdenken‘ entstehen, die eine gute Improvisation in der Musik wie in der Liebe, im Profi-Tischtennis, Blitzschach oder einem guten Gespräch vorantreiben und kreativen Flow bewirken.
Idealgast für die Sendung wäre dann wohl der Neuropsychiater Manfred Spitzer gewesen, der sich seit vielen Jahren mit den Zusammenhängen von Musikschaffen und -erleben im neuronalen Netzwerk beschäftigt und dazu das mittlerweile als Standardwerk geltende Buch „Musik im Kopf“ (Schattauer Verlag, 468 S.) veröffentlicht hat.

Heute beginnt in Berlin das wichtigste deutsche Jazzfestival unter Leitung des schwedischen Sängers und Posaunisten Nils Landgren, wo Ihr euch selbst eine Vorstellung machen könnt von „Jazz ist Musik in Veränderung, improvisierte Musik.“
Ihr müsst nur den Willen aufbringen, dorthin zu gehen …

Jazzfest Berlin

wf

3 Gedanken zu „Der Jazz als Wille und Vorstellung“

  1. Wenn „Jazz Musik in Veränderung“ ist, ist jede Musik Jazz – ziemlich banales Statement von Landgren.
    Und wenn du ‚magische Momente‘ und „Ereignisdichte ohne Nachdenken‘ in der Improvisation nur auf die neurobiologischen Grundlagen der einzelnen Musiker zurückführst, irritiert das meine Vorstellung von kollektiver Genialität.

    Die Trio-Version von „Mackie Messer“ ist echt klasse, hätte Brecht und Weill bestimmt gefallen.

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