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Ernst Tugendhat, der Streiter wider philosophischen Pseudotiefsinn, ist 80 geworden

Ernst Tugendhat

Die Zeiten, in denen idealistische Denker noch mit raunendem Tiefsinn endgültige Antworten auf die Fragen nach übergeordnetem Sinn und verbindlicher Wahrheit zu geben versuchten, sind in der Gegenwartsphilosophie längst passé, auch wenn man das an manchen kontinentaleuropäischen Fakultäten offenbar nicht gern zur Kenntnis nehmen will.  Mit dem „Linguistic Turn“ setzte sich in den meisten Geisteswissenschaften die logische Analyse von Sätzen, Begriffen und Worten in ihren jeweiligen Bedeutungs- und Verständniszusammenhängen durch und veränderte dadurch auch die Sichtweisen auf die Denk- und Handlungsursachen, auf die Natur des vernunftfähigen Tieres „Mensch“, dessen Rationalität mit allen Absichten, Reflexionen, Zweifeln und Überzeugungen nicht nur in der Sprachfähigkeit entsteht, sondern auch durch diese vermittelt wird. Nach den sprachphilosophischen Anfängen mit Frege, Russell, Wittgenstein & Co. entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich in der anglo-amerikanischen Philo-Szene eine Hinwendung zum sprachlichen Pragmatismus, dem es um die Analyse von Verstehbarkeit des ’natürlichen Sprechens‘ als situationsbedingte Aussagen in kontextabhängigen Regeln und Strukturen geht, um die jeweilige Sinnhaftigkeit innerhalb unterschiedlicher Codes (und damit auch um deren aufklärerischen und politischen Gehalt).

Einer der ersten deutschen Philosophen, der diese postmetaphysische „Denkungsart“ seinem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Engagement zu Grunde legte, war Ernst Tugendhat, der diese Woche seinen 80. Geburtstag feierte. Nach seinem Studium in den USA propagierte er mit seinen „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ ab 1976 die angelsächsisch-analytische Schule in Deutschland und wurde schließlich als Professor an der Freien Universität Berlin und später an der Uni Tübingen ihr streitbarster Hauptvertreter.

Als ‚Bruder im Geiste‘ des von mir sehr geschätzten Richard Rorty war Tugendhat überzeugt, dass „das menschliche Verstehen sich nur in Reflexion auf fundamentale sprachliche Strukturen erhellen lässt“ und dass sich Fragen nach Moral und Ethik an einer praktischen Philosophie ausrichten müssten: „Moral betrifft vielmehr menschliches Wollen.“ Der damit verbundene moralische Anspruch, dass „jeder Mensch jeden anderen Menschen gleichermaßen achten müsse“,  machte aus ihm einen Vordenker und engagierten Mitstreiter der Friedensbewegung, in der er sich unter anderem gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss und gegen den Golfkrieg einsetzte. Zudem war er viele Jahre Schirmherr der „Gesellschaft für bedrohte Völker„.

Bis ins hohe Alter hat sich Tugendhat seine Spottlust und Scharfzüngigkeit gegenüber manchen traditionshubernden Kollegen, aber auch gegenüber naturwissenschaftlich-modernistischen Wahrheitsansprüchen erhalten. So antwortet er auf die Schlussfrage in einem lesenswerten taz-Interview über Todesangst, Heidegger, Antisemitismus und haltlose Spekulationen in der Hirnforschung auf die Frage, ob es denn überhaupt gesichertes philosophisches Wissen gäbe:
„Nein. Man braucht es aber auch nicht. Der Wunsch, auf gesichertem Boden zu stehen, ist das Überbleibsel eines autoritären Bewusstseins. Es ist ein Relikt jener Zeiten, als man glaubte, von den Göttern alles Wesentliche durch Offenbarung zu erhalten.“


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wf

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