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Nackt im Netz

Die Selbstentblößung im Internet nimmt weiter zu. Geert Lovink befasst sich in seinem Aufsatzband „Zero Comments“ kritisch damit

Gastbeitrag von Walter Delabar

Das World Wide Web hat seine eigenen Konjunkturen, die sich nicht notwendig nach ökonomischen Regeln richten. Nachdem die Internetblase mitsamt dem Neuen Markt 2000 platzte und danach in ihre jämmerlichen Reste versackte, explodierte im Netz die Blog-Kultur mit einer Gewalt, die sich vorher wohl kaum jemand hatte vorstellen können. Blogs sind zwar als Sekundär- und Feedbackmedien der professionellen Medienportale entwickelt und sind in diesem Zusammenhang bislang diskutiert worden. Aber abgesehen davon, dass sie sich von dem schlechten Ruf des Pyjama-Journalismus, der zu eigenen Recherchen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht imstande ist, nie haben erholen können, sind es vor allem mittlerweile die privaten Blogs, die für eine massenhafte Ausweitung des Phänomens sorgen. Auch für sie gelten politische oder mediale Kriterien. So ist die Grenze zwischen politischen Blogs, ja den so genannten Shock-Blogs und den privaten Bekennerseiten fließend. Bei beiden Varianten, den politischen wie den privaten, lässt sich eine Verrohung der Sprache, eine Polarisierung von Meinungen und eine Enttabuisierung von Positionen beobachten, die die Blogs in der politischen Kultur zu einem schillernden, wenn nicht gefährlichen Phänomen machen.

Mehr als 100 Mio. Blogs gab es bereits im Jahr 2006, berichtet der niederländische Medienwissenschaftler Geert Lovink, und es ist seinen im Band „Zero Comments“ versammelten Aufsätzen anzumerken, dass er dieser dynamischen Szene mit einigem Misstrauen begegnet.

Das hat in der Tat medienhistorischen und funktionale Gründe: Im amerikanischen Wahlkampf sind Blogs als Instrumente des Fundraising, der Wählerwerbung und der Verbreitung politischer Statement, die einen persönlichen Charakter haben, mittlerweile unverzichtbar geworden. In der individuellen Kultur der jungen Generation sind sie – ebenso wie andere Formen der Kommunikation wie Chatrooms, Communities oder Foren – nicht mehr wegzudenken. Ein großer Teil der Kommunikation der sich mehr und mehr individualisierenden Gesellschaft verlagert sich vom persönlichen Kontakt zum medialisierten. Damit korrespondiert die Zunahme der Blogs und anderen Bekenntnisformen mit dem zunehmenden Rückzug der Gesellschaft in den privaten Bereich, den Wolfgang König in seiner „Kleinen Geschichte der Konsumgesellschaft“ (2008) attestierte.

Einher geht damit die Privatisierung und Intimisierung der öffentlichen Kommunikation, die Geert Lovink als deren nihilistischen Impuls zu greifen sucht. Denn auch wenn Blogs sich intimsten, persönlichsten und privaten Haltungen und Positionen verschreiben, ist ihnen doch eine Bedeutung vernichtende Tendenz eingeschrieben. Im Schwall des subjektiven Geredes gerät das Private zum Öffentlichen, das ohne Reflex und Reaktion verbreitet wird. Der offene Raum des Netzes ist eben nicht still, wie Rainald Goetz im Blog „Klage“ meinte, sondern er ist von unglaublicher Geschwätzigkeit und Lautstärke.

Möglicherweise liegt in diesem vor allem textlichen Getöse die Ursache dafür, dass Blogs – in ihrem Extrem als Shockblogs – sich immer radikaleren Haltungen verschreiben und im Ton immer rüder, in der politischen Haltung immer extremer werden. Anonymität und Distanz sind vielleicht die ersten Anstöße in diese Richtung, aber der Umstand, dass alles gesagt respektive geschrieben werden kann, ohne dass es im Wesentlichen irgendjemanden stört, verschärft ein Problem der Moderne, das auch in den medial nicht derart stark aufgerüsteten Gesellschaften bereits präsent ist: die Wirkungslosigkeit der individuellen Handlung in der Individualisierung der gesellschaftlichen Struktur.

Das führt, wie Lovink vermerkt, in der Tat zu neuen sozialen Paradigmen. Aber wie die Blogs im Umfeld der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh gezeigt haben, ist es fraglich, ob diese Entwicklung positiv ist. Denn wenn aus dem Getöse das Radikale folgt, damit überhaupt noch eine Chance bleibt, gehört zu werden, dann steht der Übersteigerungsmechanismus, ja der Skandalisierungsdruck im Vordergrund. Inhalt – als content ohnehin eines der schwierigsten Elemente des Netzes – gerät damit zum Strukturelement; er wird nicht nach Bedeutung, sondern nach Wirkung, vor allem nach extremer Wirkung gewählt. Damit werden politische Inhalte und Ziele wie Toleranz, Offenheit und Gemeinsinn in den Hintergrund gedrängt zum Vorteil von politischen Skandalen, die Aufmerksamkeit versprechen. Vielleicht ist das die Erklärung dafür, dass gerade in aufgeklärten, toleranten und liberalen Kulturen wie den Niederlanden die Extreme fröhliche Urständ feiern.

Dies ist umso bemerkenswerter, als Blogs ja im Grunde nichts anderes als Tage- und Notizbücher im neuen Medium sind, also zu jenen „Techniken des Selbst“ gehören, die Michel Foucault bemühte. Was sich aber hier – harmlos zu Beginn als Geständniskultur – formiert, ist anscheinend durchaus ernst zu nehmen und kritisch zu beobachten. Aus der Perspektive der Teilnehmer ist die Entwicklung allerdings eher schleichend. Dennoch wird die Verrohung des Tons bemängelt und Ausbalancierungen wie Bürgensystem bei Communities oder die Forderung nach einer Netz-Etikette zeigen, dass auch die Teilnehmer selbst unter der Entwicklung zu leiden beginnen. Das Phänomen produziert damit seine Extreme, und es versucht, sie zugleich zu moderieren und wieder einzufangen. Immerhin ein löbliches Unterfangen, dem man angesichts der Nationalisierung des Netzes, seiner Segmentierung in nationalsprachliche Bereiche und seiner Weitläufigkeit wohl einen langen Atem gönnen muss.

© Walter Delabar / Erstpublikation in literaturkritik.de

 

Geert Lovink

Geert Lovink: Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
326 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783899428049

Walter Delabar ist Publizist und apl. Professor für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin sowie freier Mitarbeiter bei „literaturkritik.de“
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  • 6 Gedanken zu „Nackt im Netz“

    1. Das meiste, was hier an negativen Auswüchsen der Bloggerei angelastet wird, trifft ja auf die traditionellen Print- und TV-Medien erst recht zu, etwa:
      „Inhalt – als content ohnehin eines der schwierigsten Elemente des Netzes – gerät damit zum Strukturelement; er wird nicht nach Bedeutung, sondern nach Wirkung, vor allem nach extremer Wirkung gewählt. Damit werden politische Inhalte und Ziele wie Toleranz, Offenheit und Gemeinsinn in den Hintergrund gedrängt zum Vorteil von politischen Skandalen, die Aufmerksamkeit versprechen.“
      Genau diese Haltung, aufs Gefährlichtse verbunden mit riesigen Geldmitteln und mafiösen Strukturen, trifft auf die bürgerlich-traditionelle Medienlandschaft (zum Zwecke von Machterhalt/-gewinn) zu – man stöbere doch mal etwas bei Adorno und Marcuse.
      Die Blogs als „Tage- und Notizbücher im neuen Medium“ haben gerade in ihrer Privatheit oft aufklärerische und subversive Funktion (siehe Birma, China, Russland u.v.a.), die einer Demokratisierung Richtung „offene Gesellschaft“ förderlich sein können.
      Von einem „zunehmenden Rückzug der Gesellschaft in den privaten Bereich“ kann dabei wohl kaum die Rede sein, es entstehen vielmehr Solidargruppen, die sich durch gegenseitige Wissensvermehrung erweiterte Kompetenzen erarbeiten und so Einfluss ausüben können.
      Natürlich ist es richtig, dass im Internet oft die „Qualitätskontrolle“ durch Recherche und Referenzquellen fehlt, aber ist das in den traditionellen Medien wirklich besser? Ich kenne genug Redakteure auch in „Qualitätsmedien“, die nix anderes tun als DPA-Meldungen ungeprüft abschreiben und nach dem Prinzip „Stille Post“ mit etwas eigenem Senf verfälschen – mittlerweile schreibt man ja auch gern von den Bloggern ab, weil die mehr „fetzen“.
      Und die Vermutung „der Umstand, dass alles gesagt respektive geschrieben werden kann, ohne dass es im Wesentlichen irgendjemanden stört“ ist genauso zutreffend aber irrelevant wie das Sich-Aufregen über irgendein Stammtischgeschwätz, weil sich auch im Web die Spreu vom Weizen langsam trennt und viele „User“ sehr wohl zwischen Dödelgeplapper und Anhörbarem unterscheiden können.
      Sehr verwegen ist auch die Annahme „… verschärft ein Problem der Moderne, das auch in den medial nicht derart stark aufgerüsteten Gesellschaften bereits präsent ist: die Wirkungslosigkeit der individuellen Handlung in der Individualisierung der gesellschaftlichen Struktur.“
      Das Individuum war ja im Mittelalter, im real existierenden Sozialismus, in Religionsgemeinschaften usw. in machtlosen und abhängigen Kleinstrukturen noch viel wirkungsloser als in dem existenzialistischen „Geworfensein“ in eine Konsumgesellschaft, der man sich aber aus eigener (Denk-)Kraft zumindest partiell entziehen und sogar seine Stimme hörbar erheben kann.
      In Frankreich ist man übrigens hinsichtlich existenzieller Grundnutzung des Bloggens schon etwas weiter: dort gibt es z.Z. 2,5 Mio aktive Blogs (Dtl. 400.000), von denen sich der Großteil mit konkreten sozialen Problemen und politischen Mißständen befasst (Sartre lässt grüßen!)

    2. Die Fähigkeit zur kritischen Rezeption – egal in welchem Medium – steht und fällt mit dem Bildungshintergrund. Deshalb ist die Kardinalfrage wohl, ob das Web, gerade durch meinungsbildende Blogs, diesen erweitern kann.
      Ich würde das vorsichtig, aber prinzipiell bejahen und die jetzt zu beobachtenden Auswüchse an narzisstischer Selbstdarstellung und „Verrohung“ nicht höher hängen, als man das bei Pubertierenden in der entwicklungsbedingten Selbstbewusstwerdung und Ambivalenz ihrer Individualisierung erwartet.
      Wenn Buchautor Lovink in der Blogkultur „neue soziale Paradigmen“ zu erkennen glaubt, ist mir das zu schwammig, weil Veränderungsprozesse ganz einfach Teil der kulturellen Evolution sind. Seien wir doch froh, dass die Denk- und Verhaltensnormierungen der Moderne, die sich offenbar als untauglich für die künftige Weltgestaltung erweisen, von der postmodernen Polyphonie weggejazzt werden.
      Die Sinn-Regeln einer kontrapunktierten Stimmführung eignet man sich auch durch ‚learning by doing‘ an.

    3. Die meisten Blogger tummeln sich doch auch bloß in ihren Cliquen, in denen traditionelle Verhaltensmuster gelten: sich gegenseitig lobhudeln, von anderen abgrenzen (lächerlich machen), Tunnelblick auf die eigene „Wichtigkeit“, Profilierungssucht mit halbprivatem Skandalgeschwätz ohne wirkliche gesellschaftliche Relevanz, sprachlich gefangen in ihren selbstgeschaffenen restringierten Codes.
      Die könnten zum Zwecke der Geselligkeit gleich twittern. (Ob das in Frankreich besser ist, kann ich nicht beurteilen, aber auch nicht so recht glauben.)
      Jedenfalls sind nach dem Ausmisten meines feedreader gerade mal eine handvoll Blogs drin geblieben.

    4. Pingback: Philosophische Schnipsel » Was bleibt vom New Journalism?

    5. Den Untergang des Abendlandes durch die kulturelle Verwahrlosung im Internet befürchtet auch der britisch-amerikanische Unternehmer, Autor und Internet-Kritiker Andrew Keen in dem Buch „Die Stunde der Stümper“.
      Die ums print-Überleben kämpfende New York Times rezensierte das Buch positiv und nannte es „ein scharfsinnig dargelegtes Klagelied“, während Kritiker Keen vorwerfen , mit substanzlosen und wenig strukturierten Provokationen Aufmerksamkeit erregen zu wollen, um den Marktwert seiner Person und seines Buches zu steigern.
      Walter Delabar hat das ‚Machwerk‘ auch gelesen und gibt in einer essayistischen Rezension Contra:

      http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13012

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