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Was bleibt vom New Journalism?

Gay Talese

In den frühen Sechziger Jahren begründete der New York Times -Journalist Gay Talese mit seinen literarischen Reportagen in den USA den anfänglich als unjournalistisch geltenden Stil des  New Journalism  und brachte damit einen Stein ins Rollen. Vor Allem seine im Esquire erschienenen Portraits von Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra entfachten eine ‚Kulturrevolution des journalistischen Schreibens‘, eine ‚Literatur der Wirklichkeit‘, in der die Kunst des Beobachtens und realen Teilnehmens Voraussetzung für eine Überwindung der Grenzen zwischen Journalismus und Literatur war.
Dahinter stand (und steht) die konzeptionelle Idee, die fiktionale Strömung unter dem Strom der Wirklichkeit aufzuspüren und die Protagonisten in einer verdichteten Prosa mit freien Gedankenassoziationen lebendig werden zu lassen.

Gay TaleseTaleses teilweise undercover recherchierte Buch-Bestseller wie „Honor Thy Father“ über eine Mafia-Familie oder sein Buch über die sexuelle Revolution in Amerika, „Thy Neighbor’s Wife“, gelten als Musterbeispiele für den New Journalism.
Den Begriff brachte aber erst Tom Wolfe 1973 ins Medienspiel, als er in der Anthologie The New Journalism  in seinem Vorwort Eigenart und Bedeutung des neuen Stils definierte und dabei auf dessen kulturelle Wurzeln in der Literatur der Beat Generation der 50er-Jahre verwies. Der New Journalism hätte eine Lücke aufgetan, weil sich die Autoren der Hochliteratur zunehmend in unverständlicher Sprache auf rein formale Spielereien beschränkten und der traditionelle Journalismus andererseits unter der faden Objektivität der Fakten jedes Leben begrabe.
Folglich wandten sich die neuen Autoren inhaltlich Bereichen zu, die andere Journalisten vernachlässigten: etwa den neuen Subkulturen der Hippie- und Popmusik, der Drogen- und Rockerszene (z.B. aufsehenerregende Stories über die „Hells Angels“) und öffentlich bisher nicht wahrgenommen Facetten der Politik – in  radikaler und subjektivistischer Perspektive:  laut, schrill und antiautoritär.

Truman Capotes penibel recherchiertes Buch über die Morde an einer Farmerfamile, „In Cold Blood“ („Kaltblütig„),  wurde 1966 zu einem Bestseller und löste einen regelrechten Medienhype  aus; Norman Mailer, der vielleicht schärfste Kritiker der US-amerikanischen Gesellschaft, erhielt für seine Reportage über die amerikanische Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg „Heere aus der Nacht“ 1969 den Pulitzer-Preis, ebenso 1980 für „Gnadenlos“, einen Tatsachenroman über einen Mörder und dessen Hinrichtung.
Hunter S. Thompson, Ende der 1960er Jahre einer der ersten Autoren des Magazins Rolling Stone, toppte mit seinem von ihm selbst so genannten Gonzo-Journalismus die Radikalität aller mittlerweile auf den Zug aufgesprungenen Autoren  durch seinen exzentrischen und ausschweifenden Lebens- wie Schreibstil, der den Erfolg des Rolling Stone rasant beschleunigte.

Kürzlich war Gay Talese bei Scobel auf der Lit.COLOGNE zu Gast, um zusammen mit dem Medienforscher Lutz Hachmeister und dem ‚Wanderjournalist‘ Wolfgang Büscher über die Anfänge dieser journalistisch-literarischen Bewegung und über die Perspektiven des aktuellen Journalismus zu diskutieren – angesichts des aktuellen Zeitungssterbens (vor Allem in den USA) und des Wandels der Bedingungen, unter denen heute Zeitungen und Zeitschriften entstehen.

Egon Erwin Kisch

Egon Erwin Kisch

Hachmeister wies darauf hin, dass der New Journalism schon Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Vorläufer in den Reportagen von Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und Tucholsky gehabt habe, bevor diese 1933 von den Nazis Publikationsverbot erhielten.
(Dieser These kann ich nur bedingt zustimmen, da sich die soziokulturellen und politischen Umstände in der Weimarer Republik wesentlich von dem selbstgefälligen God-save-America der Sixties unterschieden und zudem die literarischen Stilmittel, etwa des Perspektivenwechsels und des ‚Street-Slang‘ im New Journalism als ein „sich ausliefern, Teil der Situation zu sein“ verstanden wurden – gegenüber dem satirisch-anzüglichen Duktus p.e. bei Tucho.)

In der Talkrunde bedauerte man, dass der Investigative Journalismus als Basis des New Journalism  heute in Ermangelung finanzieller Mittel kaum noch gepflegt würde – schließlich koste das damit verbundene Reisen und oft jahrelange Recherche die Zeitungsverleger viel Geld; Wolfgang Bücher etwa erwandere sich seine Reportagen und Bücher wie „Berlin – Moskau“ in eigener Vorleistung (wofür er von Talese schulterklopfend belobigt wurde).  Zudem dominierten in Deutschland ohnehin seit Jahrzehnten die „Königsdisziplinen“ des gelehrten Feuilleton und des politischen Kommentars die journalistische Kultur. Auch sei die Popliteratur mit ihrem „hemmungslosen Subjektivismus auf Dauer öde“  und wie auch der zeitgeistige „Tempo-Journalismus“ keine Weiterführung des New Journalism.

Mehr blieb in dieser Stunde Sendezeit inhaltlich leider nicht von der Vorankündigung, auch „über die Perspektiven des aktuellen Journalismus zu diskutieren“. Mag dieses Lamento über den Niedergang des New Journalism im Bereich der ausdünnenden Zeitungslandschaft berechtigt sein, trifft es meinem Eindruck nach überhaupt nicht auf andere mediale Formen zu – im Gegenteil scheint sich die engagierte, ‚embedded‘ Reportage, auch über längere Zeiträume und mit investigativen Risiken, in den letzten Jahren wieder zunehmender Wertschätzung bei Redaktionen und Publikum zu erfreuen.
Wenn etwa Talese den guten Rat gibt „Wenn ich heute noch aktiver Journalist wäre, würde ich in eine Familie der Taliban gehen und über ihren Alltag schreiben“ läuft die damit verbundene Mahnung zur Risikobereitschaft und zum Perspektivwechsel ins Leere, weil Derartiges und noch viel Gefährlicheres heute ohnehin zum ‚Geschäft‘ gehören – ob bei Al-Dschasira, der Politkowskaja (“ ) oder einigen journalistischen Formaten im Internet, etwa dem kritisch-investigativen Blog der kubanischen Autorin Yoani Sánchez.

birmanischer MönchSo wurden etwa investigative und aufrüttelnde Reportagen über das Leiden der Minderheiten und den Aufstand der buddhistischen Mönche vorletzten Sommer in Birma  im „Irrawaddy“ publiziert, einer online- und print-Zeitung mit literarisch ansprechendem Magazinteil, die zwar von Exilanten in London herausgegeben wird, aber auch von Autoren aus Birmas Innenperspektive mit ‚verbotenen‘ Texten gefüttert wird.
Nur eins von vielen Beispielen, an denen sich erkennen läßt, wie der New Journalism im Web fortlebt, dabei aber durch die ständige Aktualisierungsmöglichkeit, die Interaktivität und Multimedialität zwangsläufig die Form ändert – zugunsten der Leser!
Aber die Parallele des eingangs erwähnten Vorwurfs von möglicherweise unseriöser Subjektivität wird dabei auch sichtbar. Denn natürlich gibt es im Web – wie damals für die ersten New Jounalists – ein Qualitätsproblem bei vielen ‚ungebändigten‘ Autoren, die nicht einer redaktionellen Kontrolle unterliegen.  Da werden Texte leicht mal zu einem solipsistischen Geschreibsel, gezeichnet vom Dämon eines Realität und Fiktion verwischenden Narzissmus, der im Vexierspiel als Agent Provocateur Kompensation für möglicherweise fehlende Akzeptanz im echten, sinnlich erfahrbaren Leben sucht „“ vor Allem bei Bloggern kann es ein selbstgefälliges Verharren in der Ironiefalle des ‚Alles-sagen-dürfen‘ werden, wenn kein ernsthafter Lektor mal die Hand auf die Tastatur legt, wie auch der Literaturwissenschaftler Walter Delabar hier in seinem Gastbeitrag „Nackt im Netz“ befürchtet.

Andererseits liegt eben darin auch der Reiz postmoderner Meinungsvielfalt, dass nicht nur scheinbar Objektives (ach! was wurde da schon immer gelogen…) , sondern auch interpretatorische Farbtupfer das Weltgeschehen verständlicher, be-greifbarer machen. Und je demokratischer und aufgeklärter unsere Kommunikationsgesellschaft durch die intrinsischen Kräfte der Informationsverbreitung wird, desto weniger wird sie sich inhaltlichen Müll andrehen lassen und auch von ‚unabhängigen‘ Autoren selbstreflexive journalistische Ethik und Sorgfalt erwarten – dann bleibt nicht nur was vom New Journalism, dann wird’s sogar mehr …

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wf

3 Gedanken zu „Was bleibt vom New Journalism?“

  1. „Zudem dominierten in Deutschland ohnehin seit Jahrzehnten die „Königsdisziplinen“ des gelehrten Feuilleton und des politischen Kommentars die journalistische Kultur.“

    Warum können „geleertes“ Feuilleton und scheinpolitischer Kommentar zumindest in Deutschland so dominieren? Vielleicht auch deshalb, weil man hierzulande nie wirklich gelernt hat, gesellschaftskritisch zu denken und zu handeln.

  2. Na so schlimm ist der ‚Kulturkampf‘ zwischen Medientraditionalisten und Web-Publishern ja auch nicht, dass du ihn gleich mit Remarque’s Klassiker „Im Westen nichts Neues“ metaphorisieren mußt ;-)

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