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Wie der Jazz mich mit Roger Willemsen versöhnte

Manchmal stimmt es ja, dass der erste Eindruck, den ein Mensch auf uns macht, sich später bestätigt; oft aber führt der erste Eindruck nur zu einem voreiligen Abhaken, zu einem der Kontingenz ungünstiger Umstände entwachsenen Vorurteil, zu dessen Revision es erst neuer, anderer Situationen bedarf, in denen die Voreingenommemheit durch ein positives Überraschungsmoment außer Kraft gesetzt wird.

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„Man kann die Welt durch ein Sonett von Shakespeare auf expansivere Weise erfahren als durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.“ (Roger Willemsen im ZEIT-Campus-Interview)

So war es mir bei Roger Willemsen ergangen, den ich anfangs einfach unsympathisch fand, vielleicht nur aus einem unbewussten Neidreflex auf seine überbordende Eloquenz (über die ich damals selber, wenn auch nur in alkoholisiertem Zustand, zu verfügen glaubte). Ich hatte ihn wohl Anfang der 90er zufällig in irgendeinem Fernsehinterview gesehen, wobei mir bezeichnenderweise gar nicht dessen Inhalt im Gedächtnis blieb, sondern nur Willemsens geckenhaftes Auftreten gepaart mit selbstverliebter Bildungshuberei. Was für ein Irrtum.
Das Überraschungsmoment war die Musik, durch die ich mich Willemsen annäherte, denn etwas später las ich zufällig in einem Jazzmagazin, dass Michel Petrucciani in der neuen ZDF-Sendereihe „Willemsens Woche“ auftreten würde. Michel Petrucciani! Der kleine, große Performer am Jazz-Piano, der mich ein Jahr vorher (1993) mit seinem Konzert auf der „Jazzwoche Burghausen“ begeistert hatte. Das war also Pflichtprogramm.

Und bei dieser einen Sendung blieb es nicht, denn ich entdeckte da einen anderen Willemsen als den meines Ressentiments: einen zwar wortverliebten, aber dem Argument verpflichteten Wahrheitssucher und rhetorischen Pistolero mit großer Treffsicherheit, wenn er in seinen Interviews Gäste wie etwa den damaligen Focus-Chefredakteur Helmut Markwort zerpflückte, wenn er sich immer wieder ohne Respekt vor der öffentlich-rechtlichen PC auf Entdeckungsreise ins scheinbar Abseitige aufmachte. Einen Flaneur, der durch seine anstrengungslosen Registerwechsel überraschende Perspektiven auf die (Un-)Kultur des Alltags und der Medienlandschaft auftat.
Und das mit dem Jazz war bei Willemsen mehr als eine bildungsbürgerliche Attitüde; er zeigte sich als begeisterungsfähiger Liebhaber exquisiter zeitgenössischer Musik, alsda er in seinen Sendungen nicht nur seinen Freund Petrucciani, sondern viele Topmusikerinnen wie Marla Glen, Herbie Hancock, Al Jarreau, Jessye Norman, Nick Cave, Lucio Dalla, Klaus Doldinger, Candy Dulfer, Marianne Faithful, Lou Reed, Sting, Cassandra Wilson, Joe Zawinul und etliche andere auf die Bühne holte. Rückblickend betrachtet wundert es mich allerdings etwas, dass er bei der Auswahl seiner Live-Acts das Risiko des Unbekannten scheute, weil das doch eigentlich sein Ding war, sein Bewegungsimpuls. Und mit diesem Bewegungsdrang landete er auch gern mal skandalträchtige Treffer, etwa als er der Model-Casting-Queen Heidi Klum in der „taz“ einen verbalen Tiefschlag verpasste, als er über ihre Sendung schrieb: „Der Exzess der Nichtigkeit aber erreicht seinen Höhepunkt, wo Heidi Nazionale mit Knallchargen-Pathos und einer Pause, in der man die Leere ihres Kopfes wabern hört, ihre gestrenge Entscheidung mitteilt und wertes von unwertem Leben scheidet. Da möchte man sechs Sorten Scheiße aus ihr herausprügeln – wenn es nur nicht so frauenfeindlich wäre“.
Aber Willemsen konnte auch die leisen Register bespielen, wenn er als Reisender, als Bücherliebhaber, als Autor, Philosoph und ewiger Sinnsucher die Ernsthaftigkeit hinter seiner Ironie durchschimmern ließ; oder seine Melancholie wie in „Der Knacks„, diesem literarisch ambitionierten Essay über die unaufhaltsame Arbeit der Zeit, über die kleinen und großen Enttäuschungen und Brüche in beschädigten Leben – besonders all denen zu empfehlen, die sich selber (noch) für knacksfrei halten. Wenn ich in Moll-Stimmung bin und die existenzielle loneliness nach einem verständigen Begleiter verlangt, les ich gern Zeilen darin wie: „Heimat ist immer der Inbegriff des Verlorenen. Es lohnt sich von ihr nur als von einem Mangel zu sprechen, und am besten verstehen sich die Menschen, wenn sie sich alle als Heimatvertriebene anerkennen, davongejagt aus den künstlichen Paradiesen ihrer gehissten Ideale und deklarierten Werte.“

Wer noch einmal (oder vielleicht zum ersten Mal) teilhaben möchte am Denken und Empfinden dieses last common public intellectual,  der vergangene Woche mit gerade mal 60 Jahren verstorbenen ist, mag sich dieses Gespräch mit Juri Steiner in der „Sternstunde Philosophie“ anhören – eines seiner letzten öffentlichen vom Frühjahr 2015, wenige Monate vor seiner Krebs-Diagnose:


…und wer gern hören mag, was Michel Petrucciani damals bei der Jazzwoche Burghausen gespielt hat – voila:

wf

2 Gedanken zu „Wie der Jazz mich mit Roger Willemsen versöhnte“

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