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Das Einhorn und die Drogen des Fortschritts

Josef H. Reichholf

Manche Leute glauben ja, man wolle ihnen mit der Geschichte vom Einhorn einen Bären aufbinden.  Aber in letzter Zeit wurden wieder vermehrt Einhörner gesichtet und Ihr habt nur noch keins gesehen, weil die sich nur Jungfrauen zeigen, die am Rande eines Einhornwalds sitzen; dann legen sie ihren Kopf in den Schoß der Jungfrau und schlafen ein.
Alles Quatsch, Sage und mythischer Religionsersatz? Nicht ganz, denn schon die alten Ägypter versuchten, Einhörner zu züchten, nein, nicht aus Bären, sondern indem sie die beiden sehr engstehenden Hörner der ostafrikanischen Oryx-Antilope nach der Geburt zusammenbanden. Und die Schotten fischten im Mittelalter Narwalzähne aus dem Nordmeer, montierten sie auf Pferdestatuen und bildeten diese auch in ihrem Wappen ab, um die immer übergriffslustigen Engländer das Fürchten zu lehren.

So nette Gschichterl baut der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf immer ganz gern ein, wenn er nach seiner, nicht immer unumstrittenen Meinung zur Kulturentwicklung des Menschen gefragt wird – und wenn man ihn ausreden läßt.
Das hat Alexander Kluge in einem Interview für seinen online-Kulturkanal dctp.tv getan und wer Kluge schätzt, schätzt ihn wohl gerade wegen des anregenden gedanklichen Umherschweifens in spekulativem Terrain, zu dem er sich und seine Gesprächspartner fast immer verführt.
Aber Reichholf hat natürlich auch trittfeste, ja beinah schon nachgewiesene Thesen auf Lager, wie er sie auch in seinem letzten Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ darlegt. Etwa, dass Homo Sapiens in Zeiten des Überflusses die Neigung entwickelt habe, ausschweifende Feste zu feiern und Getreide sowie Obst zu stimulierenden Getränken zu verarbeiten – zum dauerhaften Funktionieren menschlicher Sozialstrukturen, Rauschmittel zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls (wie man heute in bairischen Bierzelten noch gut sehen, ja noch besser hören kann). Daher rühre auch die heute noch höhere Alkoholtoleranz bei den Völkern, die sehr frühzeitig Ackerbau betrieben hatten.

Reichholf ist ein derart passionierter Erzähler, dass er oft vergisst, seinen Ausführungen ein allfälliges „Vermutlich“ oder nur ein „Vielleicht“ vorauszuschicken. Manchmal könnte man ihn gar für einen Zeitzeugen halten, wenn er etwa spekuliert, der Ausgangspunkt der sprachlichen Ausdifferenzierung beim Homo sapiens läge vor erst ca. 50.000 Jahren und daraus folgert: „Die Vielfalt der Kulturen entstand durch die ausgrenzende Wirkung der Sprache.“
Und dabei immer wieder durch philosophisch spannende Zusammenhangs-Konstruktionen in lässig-bairisch trockenem Tonfall den gewohnten Denkhorizont antippt: „Stabile gesellschaftliche Ungleichgewichte fördern kulturellen und technologischen Fortschritt.“

Der lehrreiche Interview-Spaß dauert genau eine Dreiviertelstunde, und die darf man sich schon mal gönnen, denn, wie Reichholf sagt: „Nichts ergibt ohne evolutionären Zusammenhang einen Sinn.“

Video-Interview von Alexander Kluge mit Prof. Dr. Josef H. Reichholf:
„Drogen des Fortschritts“

Josef H. Reichholf

Josef H. Reichholf

wf

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