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Wo Trolle philosophieren und Lieder aus der Edda singen…

Trolle im Dialog

… da muss Island sein. Und schon beim Flug dorthin könnte es dir passieren, dass so ein Troll mit an Bord ist, auf der Rückreise zu seinem Heimatstein auf der Insel. Denn isländische Trolle reisen gern und oft, um sich in der Welt jener merkwürdigen Wesen umzusehen, über die es sich so trollig lästern lässt. Nicht, um sich über die Andersartigkeit dieser Wesen eitel zu erheben, denn Trolle haben im Gegensatz zu den Wesen großen Respekt vor dem Andersartigen. Eher sind die Trolle unterwegs, um herauszufinden,  warum die Wesen die Erkenntnis in Philosophie, Religion und Wissenschaft aufgeteilt haben und warum sich in deren Vorstellung Sein & Sinn nur in der Konstruktion von Dualismen entfalte: in der Trennung von Subjekt und Objekt, von Physischem und Mentalem, von Natur und Kultur, von Ideal und Wirklichkeit – und sich somit in unlösbaren Widersprüchen und kognitiven Dissonanzen verheddern.

Trolle im Dialog

Trolle im Dialog – gezeichnet von zenundsenf

Und weil ein Troll nur da ganz Troll ist, wo er spielt, trifft er sich nach einer solchen Reise gern mit seinesgleichen zum „Spiel der Wesen“, bei dem die Regel gilt, man müsse tun, als sei es ernst. So lange, bis das Spiel erweist, dass der Dogmatismus jeder ‚letzten Wahrheit‘ doch nur Anschein sei und jedes Besserwissenwollen Hybris.
Doch versuche nur nicht, ohne professionellen Beistand mit einem Troll ins Gespräch zu kommen, denn es wird berichtet, dass die Trolle dann sofort verstummen, sich in Stein verwandeln, und wenn sie schlecht gelaunt sind, dich gleich mit. Andere sagen, dass die Trolle bei unvorsichtiger Ansprache dir zuerst das Wort im Munde und dann das Gedenke im Hirn verdrehen, so dass du, eh du dich’s versiehst, zur Sedierung in die Psychiatrie eingeliefert werden musst.
Warte lieber, bis du auf dem Reykjaví­ker Flughafen Kevlavik gelandet bist, wo du dir gleich in der ersten Buchhandlung die Protokolle der „Trolle auf Reisen“ besorgen kannst. Denn obwohl es wie gesagt nicht ganz einfach ist, die oftmals in anderer Gestalt oder im Gestein verborgenen Trolle bei ihrem Spiel zu beobachten und ihre Dialoge zu belauschen, gelang genau dies dem Wanderer und Reisenden Björn Eriksson bei etlichen vorsichtigen Annäherungen, wobei die vorliegenden 25 Mitschriften seines Großen Lauschangriffs entstanden. Und da Trolle sich nicht von fotographischen Apperaten erfassen lassen, hat Björn den Augsburger Zeichner Andreas Walter auf die Reise mitgenommen, um die Szenen mit Stift und Pinsel zu dokumentieren. Für Andreas, der seine Arbeiten als „zenundsenf“ unter anderem in Spiegel online, Frankfurter Rundschau und bei Ausstellungen in Deutschland, Österreich und Belgien veröffentlicht hat, war es eine neue Erfahrung, dass diesmal die Objekte seiner Kunst, also die Trolle, während des Aufzeichnungsprozesses scheinbar ein Eigenleben in seiner federführenden Hand entwickelten und ihm das Gefühl gaben „es denkt in mir“. Die Zusammenarbeit der beiden kam zustande, nachdem sie sich als Gastautoren in diesem Magazin für das Schräge, Kuriose und Unerhörte gegenseitig beschnuppert hatten, Gefallen aneinander fanden und sich schließlich für das Troll-Projekt verabredeten.

Buchumschlag "Trolle auf Reisen" von zenundsenf

Buchumschlag „Trolle auf Reisen“ von zenundsenf

 

Mit dem Protokollieren und Übersetzen der Dialoge war’s aber nicht getan, denn isländische Trolle haben die Eigenart, nach beendeter Rede auf ihren Steinen zu tanzen und dabei Verse aus dem 164-strophigen „Hávamál„, einem Bestandteil der „Edda„, zu singen. Darin geht es um den Glauben an den Wert des Einzelnen, der für sein eigenes Leben zwar Verantwortung trägt, dabei aber durch ein untrennbares Band mit der Natur und der Gesellschaft verbunden ist. Die belebte Welt formt in all ihren Manifestationen ein harmonisches Ganzes und Verstöße gegen die Natur wirken sich unmittelbar auf den Menschen selbst aus. Hávamál bedeutet zwar „Des Hohen Lied“, ist aber nicht, wie oft irrtümlich angenommen, eine Art ‚Götter-Bibel‘ mit Anweisungen oder Verlautbarungen aus der nordischen Götterwelt („Odins Worte“), sondern eine zeitlich (10. bis 13. Jh.) und inhaltlich dreigeteilte Sammlung von Alltagssituationen, aus denen in poetischer Form kleine Lebensweisheiten destilliert werden. Das Hávamál zählt zur Weisheitsliteratur und ist im Rang den indischen Veden oder den homerischen Gedichten Griechenlands vergleichbar.

Nun singen die Trolle die (auch für Isländer teilweise etwas geheimnisvollen) Texte natürlich im Original, wie es im Codex regius aus dem 13. Jahrhundert überliefert und in der Arnamagnäanischen Sammlung in Reykjavik aufbewahrt wird, aber für die deutsche Ausgabe der Troll-Protokolle galt es, diese einigermaßen adäquat zu übersetzen. Versuche dazu gabs ab dem 17. Jahrhundert etliche, doch die verschiedenen Übersetzer gestanden sich dabei große interpretatorische Freiheiten zu, die zu Missdeutungen und Sinnverstümmelungen führten (vor allem bei den Germanentümlern). Auch die wohl am häufigsten zitierte Übersetzung von Simrock erscheint vielen Isländern, die auch des Deutschen mächtig sind, unzulänglich, so dass Björn Eriksson sich zu einer Neu-Interpretation gezwungen sah, um der Gemütsverfassung der Trolle gerecht zu werden. Das Hauptproblem dabei war, dass natürlich auch das Alt-Isländische den Prozessen des Sprachwandels ausgesetzt war und viele grammatikalische und semantische Zuordnungen einzelner Begriffe heutzutage erst freigeschaufelt werden müssen, um sie neu und stimmig ein- und anzuordnen.

An diesem Punkt seiner Arbeit lud Björn mich ein, als passionierter ‚Poesie-Versteher‘ und Gelegenheits-Linguist mal einen Blick auf seine Interpretationsversuche zu werfen und meinen Senf (mit oder ohne Zen) dazuzugeben. Er wusste natürlich, dass meine Isländisch-Kenntnisse gleich Null waren (nicht mal einer seiner Einladungen auf die Insel war ich bisher gefolgt) und hatte dementprechend vorgearbeitet: Zu einer ganzen Reihe von Begriffen hatte Björn akribisch semantische Analysebäume mit Übersetzungsvorschlägen im konkreten Textzusammenhang angelegt, und das sah dann so aus wie hier zum Sinn-Feld „denken – begreifen“:

Analysebaum zum semantischen Feld "denken - begreifen"

Analysebaum zum semantischen Feld „denken – begreifen“

So gerüstet konnten wir uns also an das Derrida-Spiel der Dekonstruktion (einiger uns vorliegenden älteren Übersetzungen) und an die Lesart der Différance wagen, bei der die Elemente eines Textes in einem Spiel des gegenseitigen Verweisens der Signifikanten aufeinander interpretiert werden. Wir wollen euch hier nicht mit sprachwissenschaftlichen Details langweilen, aber ihr könnt euch sicher vorstellen, dass es uns bei dieser Bastelarbeit darum ging, die innere Struktur der Texte, deren Bezug zu anderen (Kon-)Texten und somit die relationalen Bedeutungsunterscheidungen der Begriffe einigermaßen zu erfassen, um unsere Neuinterpretationen rechtfertigen zu können. Die schickte Björn dann zunächst zur ‚Qualitätskontrolle‘ an einige der des Deutschen mächtigen Isländer und nachdem die neuen Versionen von deren Seite  beifällig abgenickt wurden, erschienen zwei Dutzend der so entstandenen Hávamál-Verse in zweisprachiger Nebeneinanderstellung in der deutschen Fassung des Protokolls, wie etwa dieses Hávamál 27, das sich als Version des damals wohl auch schon den Isländern bekannten Sinnspruchs „si tacuisses…“ von  Boethius lesen lässt:

Ósnotur maðurer
með aldir kemur,
það er best að hann þegi.
Engi það veit
að hann ekki kann,
nema hann mæli til margt.
Veita maður
hinn er vætki veit,
þótt hann mæli til margt.
Dummer Mensch
der zu Anderen kommt
bleibt am besten schweigsam.
Niemand bemerkt
wie wenig er weiß
solang er nicht spricht.
Jeder, der nur Weniges kennt,
weiß selbst nicht,
wenn er zu viel spricht.

(Da wir unsere Neuinterpretaionen als vorläufig erachten und damit auch einen Anstoss für ein weiteres Arbeiten daran geben wollen, stehen alle im Buch veröffentlichten Hávamál-Verse unter Creative Commons License und können unter Angabe der Quelle frei verwendet werden.)

Die „Trolle auf Reisen“ sind im März 2014 bei ALGORITHMICS á íslandi in Reykjaví­k erschienen und dort in allen größeren Buchhandlungen (z.B. Mál og Menning ) erhältlich. Wer’s nicht so bald auf die Insel schafft, das hübsche Büchlein aber doch gern hätte, kann es auch porto- und versandkostenfrei über die Webseite trolleaufreisen.de oder bei der Buchhändlerin seines Vertrauens beziehen (via VLB). Und natürlich vorher noch mehr darüber erfahren, denn es gibt dazu auch schon eine Buchbesprechung in der „Iceland Review“ (im deutschsprachigen Kulturteil).

Björn Eriksson & zenundsenf
Trolle auf Reisen
Algorithmics.is – Reykjaví­k, 2014
ISBN 9783000447938
96 Seiten – EURO 24,80


Wie groß der Einfluss der Trolle auf die Musik der Isländer ist, lässt sich nicht so genau sagen; die Komponistin und Sängerin Björk etwa behauptete in einem Interview, noch nie Trolle gesehen zu haben, doch möglicherweise ist das als reine Schutzmaßnahme zu verstehen (sie ist in einem Fond zur Rettung der Ökonomie und Ökologie ihres Heimatlandes engagiert). Andere Musiker, vor allem in der Punk- und Jazzszene, bekennen sich dagegen zu ihrer trolligen Inspiration. Die hört man auch manchmal deutlich heraus, wie hier bei der ganz & garnicht kategorisierbaren Band ADHD, die übrigens auch schon Konzerte in Deutschland gegeben hat.

Besetzung:
Óskar Guðjónsson sax
Ómar Guðjónsson g | b
Daví­ð þór Jónsson hammond | syn | b
Magníºs Trygvason Eliassen dr

wf

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