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Narzissmus und moralischer Selbstbetrug

Glauben Sie, dass Sie gut aussehen? Denken Sie da mal genau drüber nach. Denn laut einer Studie des Personality and Social Psychology Bulletin neigen die meisten Menschen, wenn sie sich ihr Selbstbild vorstellen, zu einer euphemistischen Imagination, in der sie sich etwa um 20% besser aussehend einschätzen als sie in Wirklichkeit sind. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass uns morgens im Spiegel gelegentlich ein ziemlich schräger Typ entgegen grient, mit zerzaustem Haar, blassem Teint und halb zugeschwollenen Augen. Dieses Mängelwesen kriegen wir schon wieder hin, wenn wir Gottes Werk ein wenig aufpimpen, so dass es den visuellen Vorgaben unserer Schönheitsindustrie wieder nahe kommt.

Wenn’s dann irgendwann doch nicht mehr so klappt und wir an der Globalisierung der Makellosigkeit höchstens noch mit Hilfe der Schönheitschirurgie teilhaben können, fällt uns vielleicht ein, dass das Aussehen doch nicht Alles ist. Es sind schließlich die inneren Werte, die moralischen Prinzipien, die uns schön, wichtig und unverwechselbar machen, und dazu dürfen wir uns doch immer wieder herzlich gratulieren.
Aber halt! Jetzt vermiest uns Benedict Carey in The Times das schöne Selbstbild mit einer Reportage über die unterbewussten Mechanismen unserer Falschwahrnehmung auch hinsichtlich unserer geistig-moralischen Selbstidealisierung: „Psychologen haben die vielen Wege aufgezeigt, mit denen die Menschen unbewusst ihr moralisches Selbstwertgefühl aufpäppeln und hochhalten. Sie schätzen sich selber gegenüber ihren Mitmenschen als moralisch überlegen ein und sind zutiefst davon überzeugt, dass sie sich in Zukunft ohne Fehl und Tadel verhalten würden; sie sehen ihre eigenen guten Absichten als lobenswert an während sie die Pläne Anderer als inkonsequent abtun. Uns sie mildern ihre moralische Selbstbeurteilung, wenn sie beruflich mal ein wirklich schmutziges Geschäft verrichten, wie etwa uninformierte Kunden zu übervorteilen.“
Das Gedächtnis spiele dabei eine besonderer Rolle, schreibt Mr. Carey, da es dazu neige, im Lauf der Zeit etwaiges moralisches Fehlverhalten zu verdrängen und gleichzeitig unsere guten Taten theatralisch aufzuhübschen.

Gleichwohl kann sich so ein angenehmer Selbstbetrug auch zu einer bösartig wuchernden Form des Narzissmus auswachsen. Fast jeder hat wohl am Arbeitsplatz oder in der Familie schon mit jemandem zu tun gehabt, dessen pompöse Selbsterhöhung man irgendwann gar nicht mehr aushalten mochte.
Ist so ein verletztendes Verhalten schon Ausdruck einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung? Die American Psychiatric Association ist sich da nicht sicher und denkt wegen dieser Abgrenzungsproblematik sogar daran, die Diagnose einer ’narzisstischen Persönlichkeitsstörung‘ ganz fallen zu lassen – dummerweise wird die Krankheit dadurch nicht beseitigt, da von einem Mangel an Narzissmus nicht die Rede sein kann. „Es gibt sehr viel Selbstzentriertheit in der Welt, und der Narziss ist mittlerweile zu einem wahrnehmbaren Typus unserer Gegenwartsgesellschaft geworden.“, sagt Dr. Andrew E. Skodoll, Psychiatrieprofessor am Arizona College of Medicine. Extremfälle von Narzissmus kompensieren seiner Meinung nach große Unzulänglichkeiten und bedürfen einer komplexen Diagnose, vor Allem hinsichtlich des neurotischen Zwangs, sich von einem allzu gleichförmigen geistigen Durchschnitt zu unterscheiden.

In dem antiken Mythos vom schönen Jüngling Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebt, endet die unerfüllte Sehnsucht nach Wiedergeliebtwerden mit Verweiflung und Tod. Die zeitgeistgemäße Variante ist die Gier nach permanenter Anerkennung der Fassade unseres Schein-Selbst durch die Anderen; die Repräsentation unseres aus mangelndem Selbstwertgefühl erwachsenen Größenwahns im Streben nach Schönheitsidealen, medialer Aufmerksamkeit, Perfektion und Machtausübung – ein Geltungsbedürfnis, das durch die Medien, allen voran das Internet, täglich weiter angefüttert wird.
Auch in Deutschland wird das Thema seit einiger Zeit unter Experten diskutiert; so untersuchte der Philosoph Georg Frank in seinem Buch „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, welche gesellschaftspoltitischen Auswirkungen der selbstherrliche Führungsstil von narzisstisch Gestörten in Politik, Medien und Wirtschaft hat und wie scheinbarer Erfolg sie in ihrem Verhalten bestätigt. Typisch sei dabei auch der oberflächliche Charme, mit dem sie andere zu umgarnen und täuschen versuchten.
Dabei ist in Expertenkreisen durchaus umstritten (weil etwas heikel), ob und wie sich Frauen narzisstischer als Männer verhalten würden. Dass jedenfalls die Ursachen für narzisstische Störungen in Kindheitstraumata lägen, wie Freud behauptete, gilt heute als gesichert. Als Symptome eines fortgeschrittenen Krankheitsstadiums zeigten sich bei Frauen vornehmlich Depressionen, Magersucht und Selbsthass, während Männer eher mit Versagensängsten und Abwehr von Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen hätten.

Diese suchtspezifischen Folgen des Narzissmus können die Betroffenen schnell ans entgegengesetzte Ende des Wahrnehmungs-Spektrums führen: in die Körperdysmorphe Störung (Body Dysmorphic Disorder). Wer darunter leidet, ist besessen von der Vorstellung, mit einem erkennbaren körperlichen Makel behaftet zu sein; Manche weigern sich sogar, das Haus zu verlassen ohne ihr Gesicht zu verbergen. Andere betäuben sich mit Alkohol und Drogen und wieder andere unterziehen sich zwanghaft immer wieder kosmetischen Operationen, frei nach Dr. Fausts Mephisto: „Es möcht kein Hund so länger leben, drum hab ich mich der Magie ergeben.“ Um gleich nach der Reparatur des eingebildeten Makels den nächsten zu entdecken…

In solchen Extremfällen sei die beste Behandlung, so schreibt die Times, eine Kombination aus Verhaltenstherapie und Serotonin-steigernden Medikamenten. Dabei sollen die Patienten lernen, sich ihre scheinbaren Defekte gedanklich ‚einzuverleiben‘ und somit innerhalb eines umfassenderen Selbstbildes zu akzeptieren.
Vielleicht wären sie aber auch gut mit der Weisheit eines alten Sprichworts beraten: „Wenn du in den Spiegel schaust, siehst du das Problem. Aber auch die Lösung.“

wf

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