Eine essayistische Lektüre-Ernte von Detlef Zöllner
Diana Kinnert war mir schon in einigen TV-Talkshows aufgefallen. Die junge Autorin ist Unternehmerin in Sachen „grüne Innovationen und Technologien“ (Wikipedia) und CDU-Mitglied, also definitiv in der falschen Partei, und in der Diskussion ungeheuer gradlinig und auf dem Punkt, was mir sehr gefallen hat. Ein Freund, mit dem ich über sie sprach, fand sie eher langweilig und ihre Argumentation schwach.
Warum ich so persönlich beginne statt direkt mit ihrem Buch? Weil ihr Engagement sehr persönlich ist. Auf die Frage, warum sie ausgerechnet bei der CDU sei statt bei den Grünen, antwortete sie, daß sie zwar nicht religiös sei, daß ihr aber kulturell das christliche „Wertegerüst“ zusage. Das mag man mit Respekt hinnehmen. Allerdings wundert es mich schon, der CDU christliche Werte zu attestieren, wo sie doch seit ihren Anfängen mit allen Mitteln ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, nach außen abgemildert als ‚soziale Marktwirtschaft‘, protegiert, das die Fundamente dieses Wertesystems unterminiert und letztlich zu seinem Zusammenbruch geführt hat. – Welche christlichen Werte also?
Doch reizte mich dieser Widerspruch: jung, grün und modern auf der einen Seite, aber blind für die ökologisch fatale Rolle ihrer Partei in den letzten sechzehn Jahren unter Merkel. Auch wollte ich gerne mehr darüber wissen, warum sie in den Diskussionsrunden bei Markus Lanz zu Gast ist und im Podcast von Lanz und Precht lobend Erwähnung findet, vom Bundestagspräsidenten zum Gespräch eingeladen wird, gemeinsame Phototermine mit Armin Laschet hat etc.
Jedenfalls hat der Titel ihres Buches, „Die neue Einsamkeit“, einen Nerv getroffen. Eine Freundin erzählte mir von den Problemen ihrer Kinder, der Junge 14, die Tochter 18: von ihren Problemen mit der umfassenden Vereinnahmung durch Schule und Universität, die ihnen zum nebenbei-noch-ein-bißchen-leben-dürfen keinen Raum läßt, keine Luft zum Atmen. Sie erzählte, wie ihr Sohn von seiner Lehrerin eine Abfuhr erhalten hatte, als er sie bat, Montags, wo der Unterricht bis 17:00 (!) geht, nicht auch noch Hausaufgaben aufzugeben, und wie sie ihm das verweigerte. Wie die Lehrerin ihm sogar, als er das nächste Mal ohne Hausaufgaben kam, einen Strich gab. Drei Striche bedeuten: extra Unterricht am Samstag. Und wie ihr Sohn sich beklagte: „Das Schlimmste ist nicht der Extra-Unterricht, sondern dass ich als Mensch nichts zähle!“
Um diese Probleme geht es in Kinnerts Buch: um die Probleme einer Jugend ohne Zukunft, weil diese Zukunft ihnen von den vorangegangenen Generationen und von der bisherigen (Wirtschafts-)Politik nicht gegönnt wird, und die dabei gleichzeitig in einem Bildungszwangssystem aufwächst, das durch die neuen Technologien nicht etwa gemildert, sondern verschlimmert wird, weil sie keinen Raum, keine Muße für Kommunikation lassen, weder mit anderen noch mit sich selbst; jedenfalls keine Kommunikation, die den sozialen Bedürfnissen (nicht nur) junger Menschen wirklich gerecht wird, was räumliche Präsenz und physische Nähe beinhaltet, und nicht Bildschirmkontakte. Dieses System gönnt ihnen gar nichts: weder Gegenwart noch Zukunft.
Was mich gleich zu Beginn an Kinnerts Buch störte: es hat einen weiteren Co-Autor, Marc Bielefeld, und es wird nirgends klar, welche Funktion er als Co-Autor hat. Ist er eine Art Ghostwriter? Ist er Rechercheur? Lektor? – Es geht in diesem Buch ganz offensichtlich um ein auch die Autorin persönlich betreffendes Thema. Warum nimmt sie da Hilfe in Anspruch? Am Ende ihres Buchs bedankt sich Kinnert bei ihrem Co-Autor, ohne den es nur ein „fertiggedachtes mickriges Buch“ geworden wäre. Aber vielleicht wäre es genau dieses‘mickrige‘ Buch gewesen, das sie hätte schreiben müssen. Fertiggedacht hatte sie es ja schon. Vielleicht wäre es ein besseres Buch geworden.
Denn tatsächlich bestätigt sich das Urteil meines eingangs erwähnten Freundes: Argumentation und Analyse des Buchs fallen schwach aus und bleiben zumeist an der Oberfläche. Die Stärken des Buchs legen vielmehr in der Beschreibung des Lebensgefühls junger Menschen in Berlin. Kinnert spricht vom „Pippi-Langstrumpf-Syndrom 3.0: „Wir alle machen uns die Welt, wie sie uns gefält. Jeder allein für sich. Jeder in seiner eigenen kleinen Raumkapsel.“ (Kinnert 2021, S.31)
Kinnert beschreibt den Frust bei einem geplanten Essen für acht Personen, von Freundinnen, die sich zu einen gemeinsamen Abend in einem hippen Restaurant verabreden, und wie die Runde letztlich nur aus zweien besteht, aus ihr und einer Freundin, während die anderen kurz vor dem Aufbruch und sogar auf dem Weg dahin sich plötzlich anders entscheiden, weil sie via Smartphone und App andere attraktive Angebote bekommen, die sie von ihrem ursprünglichen Vorhaben ablenken, und wie auch die schon eingetroffene Freundin aufgrund einer via App übermittelten Einladung eines Freundes, den sie schon länger erfolglos umwirbt, wieder geht. Am Ende wird der reservierte Tisch, an dem die Autorin allein zurückgeblieben ist, von anderen Gästen bevölkert, ohne daß sie sich entscheiden kann, sich mit ihnen einzulassen, bis sie schließlich die Avancen eines Verehrers abblitzen läßt und allein nach Hause geht.
So sieht die Freizeit-‚Gestaltung‘ aus. Gestaltet, also in konsequenter Durchführung und Entschlossenheit, wird daran gar nichts. Was die Leute regiert, ist das Smartphone.
In solchen Szenarios liegt die eigentliche Stärke ihres Buches. Ansonsten erscheint die Autorin als erstaunlich naiv. Kinnert schreibt: „Vor allem fragte ich mich: wie konnte sich ein Mensch in unserer global und digital vernetzten Welt überhaupt einsam fühlen? In einer Welt, die überfüllter, dichter, zusammenhängender und erreichbarer geworden ist als je zuvor? Wie in diesem kommunikativen Schlaraffenland noch ohne sozialen Kontakt sein? Die Welt der neuen Möglichkeiten schrie doch förmlich nach Interaktion und Austausch.“ (Kinnert 2021, S.54)
Sich über die anachronistische Einsamkeit in einer hyperkommunikativen Welt zu wundern, ist verwunderlich. Jedenfalls habe ich den unbefriedigenden Eindruck, wie sehr Kinnert bei aller Dramatik des Befundes doch an der Oberfläche bleibt. Mit den Quellen, auf die sie sich bezieht, geht sie dabei auch nicht besonders sorgfältig um. Als Beleg für die lange Historie, die das Einsamkeitsproblem hat, verweist Kinnert auf das Neue Testament, wo jemand zu Jesus sagt: „Mir fehlen die Menschen!“ (Vgl. Kinner 2021, S.66) Erstens zitiert Kinnert falsch, weil die Bibelstelle aus dem Johannes-Evangelium fehlerhaft angegeben wird. Zweitens zitiert sie die Stelle unvollständig, weil sie nur einen Teil des Satzes wiedergibt. Denn tatsächlich beklagt sich der Kranke nicht darüber, daß ihm die Menschen fehlen, sondern daß er nicht zur Heilquelle gelangen kann, weil ihn niemand dahin trägt. Drittens handelt es sich bei dem Ort dieser Begebenheit nicht um Betesda, sondern um Betseda.
Das ist ein bißchen viel auf einmal und zeugt nicht gerade von großer Sorgfalt.
Ihre Erklärungsansätze für das Einsamkeitsphänomen sind entsprechend. Da wird dann etwas als Erklärung verkauft, was eigentlich nur eine Definition ist: „Der Stressforscher und Psychiater Mazda Ali zum Beispiel traut sich über die Ursachen an das Problem heran: ‚Einsamkeit‘, schreibt er, ‚entsteht dann, wenn es eine Diskrepanz zwischen dem persönlich erwünschten und dem tatsächlichen Grad sozialer Eingebundenheit gibt.‘ (Kinnert 2021, S.71)
Die „Diskrepanz zwischen dem persönlich erwünschten und dem tatsächlichen Grad sozialer Eingebundenheit“ ist also die „Ursache“ der Einsamkeit? – Was wir erfahren ist lediglich, was Einsamkeit ist, und das erklärt gar nichts. Wir haben es mit der Inszenierung einer Erklärungsphrase zu tun. Daran ändert sich auch nichts, wenn Kinnert diese Erklärungsphrase mit etwas anderen Worten wiederholt, was den Eindruck erweckt, als habe es in den dazwischen liegenden Zeilen irgendeinen Erkenntnisfortschritt gegeben: „Was sind die eigentlichen Auslöser für die soziale Isolation …? Nun, sie entsteht durch den Mangel an Kontakten, durch das Fehlen von Unterstützung und Verbundenheit zu anderen Menschen oder auch durch aktiven sozialen Ausschluss.“ (Ebenda) – Auch hier wird nur das eine durch das andere beschrieben, ohne daß es dem Anspruch, „Auslöser“ oder gar „Ursache“ von irgendwas zu sein, genügen könnte.
Flexibler Kapitalismus und Teamarbeit
Das Kapitel zum „flexiblen Kapitalismus“ (vgl. Kinnert 2021, S.168) bietet dann einige ernsthaftere Erklärungsansätze. Was sie zur „Teamarbeit“ schreibt, ist wirklich lesenswert.
Zunächst aber zum Kapitalismus. Kinnert kritisiert nicht den Kapitalismus an sich, sondern nur die „angloamerikanische Form des Kapitalismus“ (vgl. Kinnert 2021, S.171f.), dem sie eine gute Form, nämlich den „Rheinischen Kapitalismus“, entgegenhält, der angeblich eine „soziale Marktwirtschaft“ bildet (vgl. Kinnert 2021, S.172). Wie so viele andere, gerade auch Wirtschaftswissenschaftler, glaubt Kinnert, der Kapitalismus sei eine Markwirtschaft, die Bedürfnisse befriedigt. Das ist aber nicht der Fall.
Erstens: der Kapitalismus setzt auf maximale Rendite und führt deshalb zur Monopolisierung; die ist aber das Ende aller Märkte.
Zweitens: der Kapitalismus weckt Bedürfnisse, anstatt sie zu befriedigen.
Das Prinzip des angloamerikanischen Kapitalismus ist Kinnert zufolge die „Flexibilisierung“. Tatsächlich ist aber nicht der Kapitalismus flexibel – das ist er nämlich ganz und gar nicht: all die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft mußten dem kapitalistischen Wirtschaftssystem durch mühe- und leidvolle Kämpfe abgerungen werden –, sondern die Arbeitnehmer und Konsumenten, denen die Flexibilität vom Kapitalismus abgefordert wurde; den einen als Verfügbarkeit (employability), den anderen als plastisches, vom Kapital beliebig formbares Begehrungsvermögen: „Sie (Kunden und Arbeitnehmer – DZ) müssen flink umdenken, flink umschwenken und noch flinker umsatteln.“ (Kinnert 2021, S.175)
Jetzt aber zur Teamarbeit: Kinnert entlarvt den versteckten Kontroll- und Herrschaftsanspruch in der Teamarbeit, die sie als den „perfidesten Euphemism(us)“ bezeichnet, der ihr „je untergejubelt wurde ()“. (Vgl. Kinnert 2021, S.181) Kinnert spricht von dem Zweifel, der sie „bei diesem Wort schon immer leise beschlichen hatte“: „Irgendwie habe ich diese(s) Wort noch nie gemocht.“ (Ebenda)
Kinnert bezeichnet das Team-Gerede als eine „globale() Besänftigungsstrategie“: „Aus dem Team wurde ein Netzwerk, aus den Netzwerken wurden Think Tanks, aus den Think Tanks Plattformen, aus den Plattformen Communities. Das World Wide Web.“ (Kinnert 2021, S.183)
Was mir an Kinnerts Analyse des sozial destruktiven Moments am Teambegriff gefällt, ist, wie sie die Verbindung zum heutigen Kapitalismus – den sie den ‚neuen Markt‘ nennt – zieht: „Das Wort ‚Team‘ – sowie alle seine modernen Ableger und Konnotationen – steht bei genauerer Betrachtung exakt für die Kernkompetenzen, die der neue Markt verlangt. Kontrolle bei gesteigertem Speed. Geldsparende Gruppendynamiken bei gegenseitigem Händchenhalten. Vorgetäuschtes Vertrauen und gespieltes Delegieren bei rigorosem Durch(greifen) – das keiner mehr als solches bemerkt.“ (Kinnert 2021, S.185f.)
An dieser Stelle verstand ich wieder besser, was mich an Kinnert so angesprochen hatte: ihre Direktheit und Offenheit. Sie legt ihre persönlichen Motive offen und bringt dabei die gesamtgesellschaftliche Problematik auf den Punkt. Selbst 30-jährig glaubt sie, sich nicht mehr zur „Jugend“ zählen zu müssen, die sie mit folgenden Worten anspricht:
„Und darum würde ich heute, nach allen Betrachtungen und Überlegungen, ganz besonders die Jugend mit Nachdruck und Überzeugung dazu auffordern, dem verlogenen Schein- und Community-Kapitalismus zu sagen: fuck you!“ (Kinnert 2021, S.199)
Kinnert fordert dazu auf, nicht mehr mitzumachen, mit Sennetts Worten: zur „Nichtbereitschaft, sich auf eine wildgewordene Wirtschaft einzulassen“. (Ebenda)
Das ist übrigens genau das, was auch meine Freundin ihrer 18-jährigen Tochter mit Einser-Abitur, die sich jetzt an der Universität einer weiteren Tretmühle ausgeliefert sieht – geraten hat: „Sag Nein! Mach einfach nicht mehr mit!“
Kinnert fleht – und ist sich nicht zu schade für ein „bitte, bitte!“ – darum, „wieder Herr des eigenen Lebens“ sein zu dürfen. (Vgl. ebenda)
Erfreulich fand ich noch folgendes: Kinnert fordert zum „Siezen“ auf, in einer Netzwerk- und Geschäftswelt, in der das „Duzen“ zur Pflicht geworden ist (vgl. Kinnert 2021, S.199), weil sie bezweifelt, daß sich so ein das Pflicht-Du einfordernder Chef „einmal überlegt hat, was dieses Du eigentlich bedeutet“. (Vgl. Kinnert 2021, S.201) – Damit hat mich Kinnert wieder gewonnen.
Diana Kinnert/ Marc Bielefeld
Die neue Einsamkeit
Hoffmann und Campe 2021
448 Seiten, Hardcover