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Verringert die Evolution das menschliche Gewaltpotential?

Der Evolutionsbiologe Steven Pinker glaubt, dass die Menschheit dazulernt und Gewalt als Option für Konfliktlösungen eine immer geringere Rolle spielt

Möchte man angesichts der jüngeren Geschichte der Menschheit mit ihren Weltkriegen, Tyrannenherrschaften, Völkermorden und Terrorakten wirklich an die (schöne) These glauben, die Gewalttätigkeit unter humanoiden Artgenossen sei im Lauf der kulturellen Evolution zurückgegangen? Dafür versucht der Evolutionsbiologe Steven Pinker, Professor für Psychologie an der Harvard University und regelmäßiger Autor der „New York Times“,  in seinem neuen Buch „Gewalt – Eine neue Geschichte der Menscheit“ (S. Fischer Verlag) Belege zu liefern. Auf über 1200 Seiten skizziert er eine Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, mit besonderem Augenmerk auf die Entwicklung der Gewalttätigkeit von der Urzeit bis zur Gegenwart in all ihren individuellen und kollektiven Formen. In vielen anschaulichen Graphiken verarbeitet er eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen mit darauf aufbauenden Vermutungen zu einem Gesamteindruck statistisch stetig abnehmender Gewalt, jeweils bezogen auf die Anzahl gewaltsamer Todesfälle pro einhunderttausend Menschen der jeweiligen Epochen und Regionen.

steven pinker - gewaltDen Hauptgrund dafür sieht Pinker in der steten Zunahme des Handels als Überlebenssicherung und damit einhergehend in der zunehmenden Gewaltkontrolle durch gesellschaftliche Institutionen und Staatsapperate. Mit der Aufklärung und der Verbreitung humanistischen Gedankenguts seien schließlich auch ethisch-intellektuelle Begründungen für ein friedliches Zusammenleben hinzugekommen.

Die extremen Gewaltausbrüche des 20. Jahrhunderts hält Pinker nur für eine Art letztes Aufflackern in einem sich insgesamt beschleunigenden Rückgang von Krieg und Gewalt, fügt aber hinzu: „Es ist keineswegs meine Absicht, die Verbrechen von Hitler, Stalin und Mao zu relativieren. Aber man muss bedenken: Die Weltbevölkerung ist seit dem Mittelalter massiv gewachsen. Wären die Kriege des 20. Jahrhunderts ähnlich blutig gewesen wie die Konflikte zwischen Stammesgesellschaften im präkolonialen Afrika und Lateinamerika, hätten ihnen nicht 100 Millionen, sondern rund 2 Milliarden Menschen zum Opfer fallen müssen.“ (siehe ff. Interview)

Steven Pinker, der in vielen Medien und unter Kollegen als wichtigster „public intellectual“ Amerikas gehandelt wird, ist kein positivistischer Spekulant, sondern Naturwissenschaftler, und als solcher sieht er seine Arbeit (mit einer Portion Eigenskepsis gegenüber statistischen Auswertungen) weniger als Beweis für die Zwangsläufigkeit eines geschichtlich-teleologischen Prozesses, sondern mehr als Anstoß für künftiges politisch-moralisches Handeln, das die aufgezeigten friedensfördernden Mechanismen stärker in die Entscheidungsoptionen einbezieht, wobei Europa bereits eine Führungsrolle eingenommen habe.


Schon auf der TED-Conference von 2007 stellte Pinker seine Thesen vor und veranschaulichte sie mit vielen Graphiken (das Video ist deutsch untertitelt):

wf

(etliche Kommentare dazu gibts auch hier im „Freitag“)

6 Gedanken zu „Verringert die Evolution das menschliche Gewaltpotential?“

  1. interessante Frage, ob hier tatsächlich die Evolution im Sinne von Mutation und Selektion greift. Die Selektion könnte in einer zivilisierten Gesellschaft bedeuten, dass Gewalttäter eher im Gefängnis landen oder selbst getötet werden, und sich somit nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr fortpflanzen können. Als viel einflussreicher sehe ich natürlich an, dass der Mensch dem kulturellen Umfeld entsprechend Gewaltfreiheit schlichtweg adaptiert. Aber ob der erstgenannte Einfluss mit greift, wäre spannend herauszufinden.

  2. Liebe(r) Wissentlich, die ‚kulturelle Evolution‘ wird wohl nicht über Gene transportiert (da wären ein paar Jahrtausende einfach zu wenig – es sei denn, epigenische Veränderungen, also zellchemische Methylisierungsreaktionen, könnten durch kulturelle Verhaltensweisen hervorgerufen und vererbt werden, was z.Z. eher unwahrscheinlich erscheint), sondern durch Meme, die kulturelle Verhaltensweisen verbreiten, aber auch wieder aus dem ‚kulturellen Gedächtnis‘ der Menschheit verschwinden können. Insofern trifft sicher dieser von dir zweitgenannte Einfluss der kulturellen Adaption auf Pinkers Thesen zu.

  3. Ja, man meint, dass ein paar Jahrtausende zu wenig wären. Aber überlege mal, wie schnell gezielte Züchtung sich zumindest auf den Phänotyp auswirken kann. Da reichen ein paar Generationen gezielter Auslese, um erhebliche Abweichungen hervorzurufen.

  4. Der Kommandeur der Lazarett-Einheit meinte, dass er vollstes Verständnis dafür habe, und man sich nicht zu schämen bräuchte, wenn man den Raum während der Filmvorführung verlasse.
    Ein britischer Lehrfilm stand an, geeignet uns auf das vorzubereiten, was auf uns zukommen wird. Der Lehrfilm zeigte in detailliertesten Bildern, wie ein OP-Team zerfetzte Arme oder Beine von kleinen Kindern mit der Knochensäge abschnitt. Die Kinder hatten die sowjetischen Splittergranaten, welche die Form von Schmetterlingen hatten, für Spielzeug gehalten.
    Wegsehen half nicht, denn das Mikrophon wurde bei den Filmaufnahmen sehr nahe an die Knochensäge gehalten, und die eindringlichen Geräusche, die eine Knochensäge verursacht, wenn sie sich durch Kinderknochen fräst, waren schlimmer zu ertragen als die Zoom-Aufnahmen selbst.

    Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als diesen Film auf YouTube zu wissen, und jedem, der argumentiert, dieses gerade verstümmelte Kind wäre als Bestandteil eines „Reinigungsprozesses“ zu betrachten, dazu zwingen zu können, sich diesen Lehrfilm bis zum Ende ansehen zu müssen. Als objektiver Gewinn würde immerhin der persönliche Zeitgewinn winken, der aus der Differenz der Zeitdauer des Films und der benötigten Zeit für 1200 Seiten Lesestoff resultiert, um einen Gesamteindruck statistisch stetig abnehmender Gewalt, jeweils bezogen auf die Anzahl gewaltsamer Todesfälle pro einhunderttausend Menschen zu erhalten.

    Es ist zu lesen, dass letztlich es doch der tiefste Instinkt jedes Intellektuellen sei, nicht einfach nur zu streiten, sondern am Ende auch Recht zu behalten. Intellektualität zeichne sich nicht etwa dadurch aus, dass man seine eigene Meinung bezweifle, sondern dass man argumentiere, d.h. dass man seine Meinung aufs Spiel setze, und sie dem Konkurrenzkampf der Meinungsvielfalt aussetze.

    Ich bin kein Intellektueller.

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