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Die Kassandrarufe des „Wilden Denkers“

Wissen wir denn überhaupt was wir wirklich wollen? Der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek spekulierte gestern in einem Interview bei 3sat-Kulturzeit: „Unser Problem besteht nicht darin, dass unsere Sehnsüchte befriedigt werden. Unser Problem ist: Woher wissen wir, was wir ersehnen? Menschliche Sehnsucht ist nichts Spontanes. Unsere Sehnsüchte sind künstlich. Man muss uns überhaupt erst beibringen, wie wir begehren sollen.“
Er meinte damit, dass die kapitalistischen Spielregeln der Spaßgesellschaft unsere Bedürfnisse erst wecken,  uns durch oberflächliche Vergnügungen versklaven und uns so von ‚uns selbst‘ entfremden. Wir seien Marionetten eines Systems, gehalten an den unsichtbaren Fäden kapitalistischer Propaganda.

Slavjo Zizek

Slavoj Žižek

Klingt nicht ganz neu, was der „Wilde Denker“ (O-Ton 3sat) aus Ljubljana da so ganz im Geist der Kritischen Theorie gegen die herrschende Konsum- und Popularkultur auffährt, spürbar angelehnt an Marcuses „Der eindimensionale Mensch“, doch er ‚aktualisiert‘ am konkreten Beispiel der Kapitalismuskrise auch die poststrukturalistischen Vorstellungen vom Menschen als einem „dezentrierten Subjekt“, wie sie etwa von Gilles Deleuze oder Jacques Derrida vorgedacht wurden. Žižek glaubt nicht, dass die Krise eine Chance auf Katharsis biete, sondern im Gegenteil unsere Fesseln noch enger schnüre.

Und weil der Slowene mit seinem Pointen-heischenden Stil auch gern mal drastisch den „Philosophie-Entertainer“ für die Linksintellektuellen-Stammtische gibt, legte er nach:
„Ich denke, dass das Schockmoment der Krise als manipulative Strategie des globalen Kapitalismus genutzt wird, um kapitalistische Spielregeln noch radikaler zu etablieren und den Sozialstaat auszuhöhlen. Wir sind die „Crash Test Dummies“ für den Frontalkurs.“

Auch in seinem neuen Buch „Auf verlorenem Posten“ versucht Žižek, die Widersprüche des Neoliberalismus zu entlarven und vergleicht den Kapitalismus mit einer Comicfigur, die stolz über den Dachfirst hinaus ins Leere läuft – um dann jäh abzustürzen. Die Krise als Katastrophenszenario, das uns die ideologischen Prioritäten der globalisierten Welt klar macht, in der die Politiker erst recht dem Götzendienst in der ‚Religion des Marktes‘ frönen anstatt das System in Frage zu stellen und die (kapitalgesteuerten) Interpretationen der ökonomischen Eliten zur Regenerationsfähigkeit des Kapitalismus als „the only game in town“ anzuzweifeln.  Gerade in Krisenzeiten gaukle die Ideologie vor, nicht das System sei schuld, sondern die Gier Einzelner. Je einfacher die Schuldigen zu identifizieren seien, desto leichter rehabilitiere sich das System.

Und kein öffentlicher Žižek-Auftritt ohne warnende „Kassandrarufe“:
„Wenn wir die historische Entwicklung einfach so weiter laufen lassen, dann wird es in einer noch nie dagewesenen sozialen und ökologischen Katastrophe enden. Wir müssen endlich handeln, ohne darauf zu hoffen, dass ein ‚großer Anderer‘ oder die Geschichte auf unserer Seite ist. Niemand ist auf unserer Seite.“

Ach, Žižek, du bist da nicht allein, doch charakteristisch für solche Kassandrarufe ist die Tatsache, dass sie von Personen stammen, die zwar über Reflexionsfähigkeit, Insiderkenntnisse und realitätsgerechtes Urteil verfügen, aber nicht über entsprechende Durchsetzungskraft. Kassandra hatte mit ihrer Gottesgabe der Vorsehung ja immer recht, wurde aber bekanntlich dafür auch von der gierverblendeten Klytämnestra erdolcht.

Slavoj Žižek
„Auf verlorenem Posten“
Suhrkamp 2009
ISBN-13: 978-3518125625

wf

3 Gedanken zu „Die Kassandrarufe des „Wilden Denkers““

  1. Man muss schon sagen, die Performance, die dieser sympathische Zizek auf das Parkett legt ist beachtlich. Philosophie, Soziologie, Psychoanalyse, Kapitalismuskritik, Antisemitismus…er weiß alles und hat den ultimativen Durchblick. Seine Grundaussage ist dennoch einfach: Das System ist an allem Schuld. Wer hätte das gedacht? Verschwörungstheorie light sozusagen: „…Wir sind Marionetten eines Systems…“

    Die Frage, welche man von einem so bedeutenden Philosophen beantwortet haben möchte, wäre jetzt natürlich: Was ist denn nun die Alternative zum bestehenden System? Doch auch dieses Mastermind versagt bei der Aufgabe, einen tragfähigen Gegenentwurf zu entwickeln, wie alle aktuellen Systemkritiker. Wie immer: gute Analyse, beste Diagnostik, aber keine Therapie. Am Ende ist es doch nur heiße Luft.

    So bleibt er ein Statussymbol einer bürgerlichen Bildungselite, die sich in ihren wohlsituierten Vorstädten, neben ihrer grünen Partei, Greenpeace, einem Toyota Prius, auch noch einen Philosophen für ihr narzisstisches Gutmenschentum leisten kann. Aber denen schadet ein Psychoanalytiker auch nicht, im Gegenteil.

    Link zum Kulturzeit Video mit Zizek auf 3sat:
    http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=13901

  2. @tischl: Deine Einschätzung, dass Zizek und andere „Outsider“ ihre mediale Aufmerksamkeit teilweise auch ihrer Alibifunktion für die Gutmenschen und Möchtegerneliten verdanken, trifft sicher zu. Derlei Adaptionen scheinen aber spätestens seit Sokrates zu den antropologisch-psychologischen Konstanten der ‚Zivilgesellschaft‘ zu gehören (eine Kulturgeschichte der Provokation wäre mal zu schreiben).
    Deshalb sehe ich Zizeks Wichtigkeit vor allem darin, dass er zu denen gehört, die den roten Faden der ‚Kritischen Theorie‘ öffentlich weiterspinnen, nachdem andere, wie etwa Habermas, sich auf diskursive Vermittlungsstrategien zurückgezogen haben.
    Es ist leider so, dass die dialektisch elaborierteren Kulturkritik-Stimmen dieses Jahrzehnts öffentlich kaum gehört werden, etwa Volker Steenblock oder George Steiner, der in einem ZEIT-Gespräch über ‚Kapitalismus und Kultur‘ Zizeks Aussagen schon vorwegnahm: „Schon der Neandertaler war postmodern. Wenn wir die Hände in den Schoß legen, sind wir verloren.“ (Die ZEIT, 3.8.2000).

    Und danke übrigens für die Video-Verlinkung, war zum Zeitpunkt des Artikelschreibens noch nicht verfügbar.

  3. Ja, irgendwie beschleicht einen bei solchen gesellschaftskritischen Kassandrarufen schon manchmal das Gefühl, daß hier bei aller geäußerten scharfen Systemkritik letztlich doch systemstabilisierend gewirkt wird.

    Und ist es nicht auch so, daß heute gar nicht wenige ehemalige 68er nicht mehr viel von ihrem früheren Tun als radikallinke Weltverbesserer wissen wollen und es sich nach ihrem Seitenwechsel hin zum Kapitalismusfreak jetzt äußerst gemütlich machen in der einst so verhaßten entfremdeten Konsumwelt?

    Fundierte Kritik an Fremdbstimmung und Manipulation muß wenigstens realistische Ansätze für befreiende Veränderungsmöglichkeiten aufzeigen können, anstatt sich in nur in dunkelsten Untergangstiraden zu ergehen, um nicht irgendwann in perverser Überanpassung zu enden.

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