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Ein paar Wahrheiten über Wahrheit und Lüge

Friedrich Nietzsche

Notiz zur Scobel-Sendung „Was ist die Wahrheit wert?“ und ein Filetstück von Nietzsche

„Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge.“

Epiktet

Nicht wahr ist, dass diese Erkenntnis des alten Stoikers von Gert Scobel in seiner September-Sendung „Was ist die Wahrheit wert?“ richtig zitiert wurde; und es ist auch nicht wahr, dass diesmal das dekorative 3sat-Schachbrett richtig aufgestellt war (hier im Filmbeitrag über Edward Snowden waren Dame und König vertauscht, wahrscheinlich wars wieder der Azubi „ich-mache-was-mit-medien“). Aber da wollen wir nicht kleinlich sein und erst recht nicht als Miesmacher missverstanden werden, denn Scobel macht in seinen interdisziplinären Themen-Sendungen als Moderator einen prima Job, ist inhaltlich meist auf Diskurshöhe und versucht als autodidaktischer „Generalist“ die Übersicht zu behalten, um die manchmal etwas ’speziellen‘ Gedankenfäden seiner Gäste einigermaßen stimmig zu vernetzen. Aufklärungs-TV der besseren Sorte also, das nur leider in dieser 1%-Quoten-Nische auf 3sat viel zu wenig rezipiert wird.

Eingeladen waren diesmal die ZDF-Moskau-Korrespondentin Anne Gellinek, Philosophie-Professorin Simone Dietz sowie Ex-Bundesminister und Attac-Mitglied Heiner Geißler. Eine Diskussionsrunde auf der Suche nach kleinen Wahrheiten über Wahrheit und Lüge, die durchaus Bekanntes zu Tage förderte. Etwa, dass wir bei jedem Versuch, wenn uns jemand etwas als DIE WAHRHEIT verkaufen will, skeptisch sein sollten. Bei ideologisch-propagandistisch eingefärbten „Wahrheiten“ aus verschiedenen Lagern (wie im Ukraine- oder Gaza-Konflikt) ebenso wie bei populistischen Verführungsversuchen des ‚gesunden Menschenverstands‘ oder absoluten Geltungsansprüchen von ‚Experten‘, auch in den Naturwissenschaften (Diez wies auf die „induktive Lücke“ hin).
Aber damit die Scobelei nicht zu abstrakt und trocken bleibe, gabs wie üblich wieder anschauliche Kurzfilmchen zum Thema; geboten wurde Anekdotisches von Pontius Pilatus über den Kachelmann-Prozess bis hin zu unser aller Alltagslügen. Und gern wird von der Redaktion auch was aus der Scherzkiste gekramt, diesmal aus der Zeichentrick-Reihe „Philosophisches Kopfkino“, um die unterschiedlichen Wahrheits-Modelle der Philosophiegeschichte im Schnelldurchgang hinzutackern. Nun sind diese Clips ja wohl als Appetithäppchen gedacht, die mit den Mitteln der ironischen Pointierung Lust auf ein thematisches Hauptmenu machen oder wenigstens eine Mini-Erkenntnis to go anbieten sollen. Bei manchen der mittlerweile etwa einem Dutzend Filmchen gelingt das auch ganz gut (auch hier haben wir schon ein paar eingestreuselt), aber bei dem folgenden liegt in der Kürze nicht Würze, sondern … ein ziemlicher Schmarrn. Nicht dass wir an Blödeleien in den sakrosankten Gefilden der Philosophie keinen Spass hätten, aber der pädogogische Nährwert sinkt halt gegen Null, wenn bei fast jedem Versuch einer Pointierung nur ein sorry, knapp daneben konstatiert werden kann. So wird hier vom Clip-Autor die Aristotelische Wahrheitsfindung auf das Kriterium reduziert, dass „möglichst viele Leute mit einer Meinung oder Annahme übereinstimmen“ – statt beispielsweise darauf hinzuweisen, dass A. mit seinen naturphilosophischen und logischen Erkenntnissen und Kategorien als Begründer der Korrespondenztheorie der Wahrheit angesehen werden kann. Noch unverdaulicher wirds, wenn vom Pragmatismus behauptet wird, er würde sich „mit dem zufrieden geben, was man hat“ – obwohl der Pragmatismus ja im Gegenteil versucht, den Status Quo reflexiv in Frage zu stellen und in einem dialektischen Prozess von Fallibilitätsprüfung und lebenspraktischer Bewährung zu verbessern. Wenig nahrhaft auch die Anmerkungen zu Idealismus, Dialektischem Materialismus oder zum Verhältnis von einer idealisierten ‚absoluten‘ zu einer verfeinerten ‚relativen‘ Wahrheit (wofür als Beispiel die Verformung der guten alte Erdkugel in die geologisch korrekte Erdkartoffel herhalten muss).

Es gibt halt kein richtiges Lachen in der falschen Erzählung, aber seht selbst:

Vielleicht empfand Gert Scobel diese ausgefranste ‚Behandlung‘ des philosophischen Großthemas in seiner Sendung selber als etwas unbefriedigend, so dass er am Schluss (und in seinem Blog) noch ein Filetstück anschnitt von Friedrich Nietzsche, der gegen die vernunftethischen Räsonnements zu Wahrheit und Lüge auf die stärkere Wirksamkeit von Anthropomorphismen und menschlichen Relationen wie dem (Schopenhauerschen)  Willen, dem Triebhaften im außermoralischen Sinne hingewiesen hat.  Hier nun wird euch nicht nur ein Appetithäppchen von diesem wunderbaren Text, sondern der ganze serviert; und weil möglicherweise die mediensoziologische These von der „verkürzten Aufmerksamkeitsspanne“ der User im Netz auch auf manche von euch zutrifft, habe ich das Teil auch für Leser (!) zum Ausdrucken (PDF) aufbereitet und dabei eine Schriftgröße gewählt, die eine Lektüre auch noch beim Spazierengehen erlaubt – was ja laut Nietzsche ein probates Mittel zur Wahrheitsfindung ist ;-)

Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. „“ So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt. Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht, durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens, sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der Stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.

Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche

Es ist merkwürdig, daß dies der Intellekt zustande bringt, er, der doch gerade nur als Hilfsmittel den unglücklichsten, delikatesten, vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten, aus dem sie sonst, ohne jene Beigabe, so schnell wie Lessings Sohn zu flüchten allen Grund hätten. Jener mit dem Erkennen und Empfinden verbundene Hochmut, verblendende Nebel über die Augen und Sinne der Menschen legend, täuscht sie also über den Wert des Daseins, dadurch daß er über das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Wertschätzung in sich trägt. Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung „“ aber auch die einzelnsten Wirkungen tragen etwas von gleichem Charakter an sich.

Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiß zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht „Formen“, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen. Dazu läßt sich der Mensch nachts, ein Leben hindurch, im Traume belügen, ohne daß sein moralisches Gefühl dies je zu verhindern suchte: während es Menschen geben soll, die durch starken Willen das Schnarchen beseitigt haben. Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!

Soweit das Individuum sich, gegenüber andern Individuen, erhalten will, benutzt es in einem natürlichen Zustand der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch zugleich aus Not und Langeweile gesellschaftlich und herdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluß und trachtet danach, daß wenigstens das allergrößte bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluß bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an „Wahrheit“ sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und Lüge. Der Lügner gebraucht die gültigen Bezeichnungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu machen; er sagt zum Beispiel: „ich bin reich“, während für seinen Zustand gerade „arm“ die richtige Bezeichnung wäre. Er mißbraucht die festen Konventionen durch beliebige Vertauschungen oder gar Umkehrungen der Namen. Wenn er dies in eigennütziger und übrigens Schaden bringender Weise tut, so wird ihm die Gesellschaft nicht mehr trauen und ihn dadurch von sich ausschließen. Die Menschen fliehen dabei das Betrogenwerden nicht so sehr als das Beschädigtwerden durch Betrug: sie hassen, auch auf dieser Stufe, im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen. In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahrheit: er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit, gegen die reine folgenlose Erkenntnis ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt. Und überdies: wie steht es mit jenen Konventionen der Sprache? Sind sie vielleicht Erzeugnisse der Erkenntnis, des Wahrheitssinnes, decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?

Nur durch Vergeßlichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen, er besitze eine „Wahrheit“ in dem eben bezeichneten Grade. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie, das heißt mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln. Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschließen auf eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde. Wie dürften wir, wenn die Wahrheit bei der Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt der Gewißheit bei den Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre, wie dürften wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns „hart“ noch sonst bekannt wäre, und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung! Wir teilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Kanon der Gewißheit! Wir reden von einer „Schlange“: die Bezeichnung trifft nichts als das Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges! Die verschiedenen Sprachen, nebeneinander gestellt, zeigen, daß es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. Das „Ding an sich“ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfaßlich und ganz und gar nicht erstrebenswert. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hilfe. Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue. Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den „Ton“ nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.

Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, daß heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das „Blatt“ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen „ehrlich“. warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heißt wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die „die Ehrlichkeit“ hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: „die Ehrlichkeit“. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, daß er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil.

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.

Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört, die die Gesellschaft, um zu existieren, stellt: wahrhaft zu sein, das heißt die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun vergißt freilich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also in der bezeichneten Weise unbewußt und nach hundertjährigen Gewöhnungen „“ und kommt eben durch diese Unbewußtheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahrheit. An dem Gefühl verpflichtet zu sein, ein Ding als „rot“, ein anderes als „kalt“, ein drittes als „stumm“ zu bezeichnen, erwacht eine moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung: aus dem Gegensatz des Lügners, dem niemand traut, den alle ausschließen, demonstriert sich der Mensch das Ehrwürdige, Zutrauliche und Nützliche der Wahrheit. Er stellt jetzt sein Handeln als „vernünftiges“ Wesen unter die Herrschaft der Abstraktionen; er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle diese Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen. Im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen zu schaffen, die nun der andern anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische. Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihresgleichen ist und deshalb allem Rubrizieren immer zu entfliehen weiß, zeigt der große Bau der Begriffe die starre Regelmäßigkeit eines römischen Kolumbariums und atmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist. Wer von dieser Kühle angehaucht wird, wird es kaum glauben, daß auch der Begriff, knöchern und achteckig wie ein Würfel und versetzbar wie jener, doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt, und daß die Illusion der künstlerischen Übertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter, so doch die Großmutter eines jeden Begriffs ist. Innerhalb dieses Würfelspiels der Begriffe heißt aber „Wahrheit“, jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist, genau seine Augen zu zählen, richtige Rubriken zu bilden und nie gegen die Kastenordnung und gegen die Reihenfolge der Rangklassen zu verstoßen. Wie die Römer und Etrusker sich den Himmel durch starre mathematische Linien zerschnitten und in einen solchermaßen abgegrenzten Raum, als in ein templum, einen Gott bannten, so hat jedes Volk über sich einen solchen mathematisch zerteilten Begriffshimmel und versteht nun unter der Forderung der Wahrheit, daß jeder Begriffsgott nur in seiner Sphäre gesucht werde.

Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Auftürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes gelingt: „“ freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muß es ein Bau wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von jedem Winde auseinandergeblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solchermaßen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabrizieren muß. Er ist hier sehr zu bewundern „“ aber nur nicht wegen seines Triebes zur Wahrheit, zum reinen Erkennen der Dinge. Wenn jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es ebendort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der „Wahrheit“ innerhalb des Vernunft-Bezirkes. Wenn ich die Definition des Säugetiers mache und dann erkläre, nach Besichtigung eines Kamels: „siehe, ein Säugetier“, so wird damit eine Wahrheit zwar ans Licht gebracht, aber sie ist von begrenztem Werte, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punkt, der „wahr an sich“, wirklich und allgemeingültig, abgesehn von dem Menschen, wäre. Der Forscher nach solchen Wahrheiten sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen, er ringt nach einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges und erkämpft sich bestenfalls das Gefühl einer Assimilation. Ähnlich wie der Astrolog die Sterne im Dienste der Menschen und im Zusammenhange mit ihrem Glück und Leide betrachtete, so betrachtet ein solcher Forscher die ganze Welt als geknüpft an den Menschen, als den unendlich gebrochenen Widerklang eines Urklanges, des Menschen, als das vervielfältigte Abbild des einen Urbildes, des Menschen. Sein Verfahren ist, den Menschen als Maß an alle Dinge zu halten: wobei er aber von dem Irrtum ausgeht, zu glauben, er habe diese Dinge unmittelbar, als reine Objekte vor sich. Er vergißt also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst.

Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglichen in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt, vergißt, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem „Selbstbewußtsein“ vorbei. Schon dies kostet ihm Mühe, sich einzugestehen, wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt perzipieren als der Mensch, und daß die Frage, welche von beiden Weltperzeptionen richtiger ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maßstabe der richtigen Perzeption, das heißt mit einem nicht vorhandenen Maßstabe gemessen werden müßte.

Überhaupt aber scheint mir „die richtige Perzeption“ „“ das würde heißen: der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt „“ ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf. Das Wort „Erscheinung“ enthält viele Verführungen, weshalb ich es möglichst vermeide: denn es ist nicht wahr, daß das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint. Ein Maler, dem die Hände fehlen und der durch Gesang das ihm vorschwebende Bild ausdrücken wollte, wird immer noch mehr bei dieser Vertauschung der Sphären verraten, als die empirische Welt vom Wesen der Dinge verrät. Selbst das Verhältnis eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde ist an sich kein notwendiges: wenn aber dasselbe Bild millionenmal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der gesamten Menschheit jedesmal infolge desselben Anlasses erscheint, so bekommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig notwendige Bild sei und als ob jenes Verhältnis des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Kausalitätsverhältnis sei; wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurteilt werden würde. Aber das Hart- und Starr-Werden einer Metapher verbürgt durchaus nichts für die Notwendigkeit und ausschließliche Berechtigung dieser Metapher.

Es hat gewiß jeder Mensch, der in solchen Betrachtungen heimisch ist, gegen jeden derartigen Idealismus ein tiefes Mißtrauen empfunden, so oft er sich einmal recht deutlich von der ewigen Konsequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der Naturgesetze überzeugte; er hat den Schluß gemacht: hier ist alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt, so sicher, ausgebaut, endlos, gesetzmäßig und ohne Lücken; die Wissenschaft wird ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben haben, und alles Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugnis: denn wenn es dies wäre, müßte es doch irgendwo den Schein und die Unrealität erraten lassen. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen.

Sodann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz? Es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen, das heißt in seinen Relationen zu andern Naturgesetzen, die uns wieder nur als Summen von Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder aufeinander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen, sind uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen. Diese aber produzieren wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, daß wir an allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in den Dingen. Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so daß wir damit uns selber imponieren. Dabei ergibt sich allerdings, daß jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe konstituiert werden konnte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der Zeit-, Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.

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An dem Bau der Begriffe arbeitet ursprünglich, wie wir sahen, die Sprache , in späteren Zeiten die Wissenschaft. Wie die Biene zugleich an den Zellen baut und die Zellen mit Honig füllt, so arbeitet die Wissenschaft unaufhaltsam an jenem großen Kolumbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauungen, baut immer neue und höhere Stockwerke, stützt, reinigt, erneut die alten Zellen und ist vor allem bemüht, jenes ins Ungeheure aufgetürmte Fachwerk zu füllen und die ganze empirische Welt, das heißt die anthropomorphische Welt, hineinzuordnen. Wenn schon der handelnde Mensch sein Leben an die Vernunft und ihre Begriffe bindet, um nicht fortgeschwemmt zu werden und sich nicht selbst zu verlieren, so baut der Forscher seine Hütte dicht an den Turmbau der Wissenschaft, um an ihm mithelfen zu können und selbst Schutz unter dem vorhandenen Bollwerk zu finden. Und Schutz braucht er: denn es gibt furchtbare Mächte, die fortwährend auf ihn eindringen und die der wissenschaftlichen „Wahrheit“ ganz anders geartete „Wahrheiten“ mit den verschiedenartigsten Schildzeichen entgegenhalten.

Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, daß aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flußbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe, dadurch daß er neue Übertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist. An sich ist ja der wache Mensch nur durch das starre und regelmäßige Begriffsgespinst darüber im klaren, daß er wache, und kommt eben deshalb mitunter in den Glauben, er träume, wenn jenes Begriffsgespinst einmal durch die Kunst zerrissen wird. Pascal hat recht, wenn er behauptet, daß wir, wenn uns jede Nacht derselbe Traum käme, davon ebenso beschäftigt würden als von den Dingen, die wir jeden Tag sehen: „wenn ein Handwerker gewiß wäre, jede Nacht zu träumen, volle zwölf Stunden hindurch, daß er König sei, so glaube ich, sagt Pascal, daß er ebenso glücklich wäre als ein König, welcher alle Nächte während zwölf Stunden träumte, er sei Handwerker“. Der wache Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus annimmt, in der Tat dem Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers. Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst plötzlich gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann, in der Begleitung des Pisistratus, durch die Märkte Athens fährt „“ und das glaubte der ehrliche Athener „“, so ist in jedem Augenblicke, wie im Traume, alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zu täuschen.

Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen, und ist wie bezaubert vor Glück, wenn der Rhapsode ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den König noch königlicher agiert, als ihn die Wirklichkeit zeigt. Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden, und feiert dann seine Saturnalien. Nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener: mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern durcheinander und verrückt die Grenzsteine der Abstraktionen, so daß er zum Beispiel den Strom als den beweglichen Weg bezeichnet, der den Menschen trägt, dorthin, wohin er sonst geht. Jetzt hat er das Zeichen der Dienstbarkeit von sich geworfen: sonst mit trübsinniger Geschäftigkeit bemüht, einem armen Individuum, dem es nach Dasein gelüstet, den Weg und die Werkzeuge zu zeigen, und wie ein Diener für seinen Herrn auf Raub und Beute ausziehend, ist er jetzt zum Herrn geworden und darf den Ausdruck der Bedürftigkeit aus seinen Mienen wegwischen. Was er jetzt auch tut, alles trägt im Vergleich mit seinem früheren Tun die Verstellung, wie das frühere die Verzerrung an sich. Er kopiert das Menschenleben, nimmt es aber für eine gute Sache und scheint mit ihm sich recht zufrieden zu geben. Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordnen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, daß er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht und daß er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmäßiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.

Es gibt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch nebeneinander stehn, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion; der letztere ebenso unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beide begehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vorsorge, Klugheit, Regelmäßigkeit den hauptsächlichsten Nöten zu begegnen weiß, jener, indem er als ein ,“überfroher Held“ jene Nöte nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt. Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland, seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt als sein Widerspiel, kann sich günstigenfalls eine Kultur gestalten und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen: jene Verstellung, jenes Verleugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung begleitet alle Äußerungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der tönerne Krug verraten, daß die Notdurft sie erfand: es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. Während der von Begriffen und Abstraktionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, außer der Abwehr des Übels, eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung. Freilich leidet er heftiger, wenn er leidet: ja er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost. Wie anders steht unter dem gleichen Mißgeschick der stoische, an der Erfahrung belehrte, durch Begriffe sich beherrschende Mensch da! Er, der sonst nur Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von Täuschungen und Schutz vor berückenden Überfällen sucht, legt jetzt, im Unglück, das Meisterstück der Verstellung ab, wie jener im Glück; er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaße der Züge, er schreit nicht und verändert nicht einmal seine Stimme, wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgießt, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon.

Friedrich Nietzsche
1873, aus dem Nachlaß

Druckfassung (PDF)

So, und wer’s jetzt bis hierher geschafft hat, kriegt zur Belohnung noch den Link zur ‚ganzen Wahrheit‘:
der Wikipedia-Artikel „Wahrheit“ – wie immer zum Einsteigen und Weiterklettern…

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19 Gedanken zu „Ein paar Wahrheiten über Wahrheit und Lüge“

  1. Nicht nur die Wahrheit ist relativ, sondern auch Nietzsches Gejammere. Was ihm als beklagenswert erscheint, enthält tiefe Einsichten über die menschliche Natur, und als solche sind diese eigentlich überhaupt nicht bejammernswert. Zum Übergang von Metaphern zu Begriffen hat Blumenberg eine beherzigenswerte „Theorie der Unbegrifflichkeit“ entwickelt, die den Geist in die Geisteswissenschaften, um Kittler zu persiflieren, zurücktreibt.
    Außerdem wäre es höchst wünschenswert, wenn unsere heutigen Naturwissenschaftler, den Menschen endlich wieder als Maß der Dinge ernstnehmen würden, anstatt ihn ständig überall wegzudefinieren, so lange, bis auch der letzte bewohnbare Winkel dieses Planeten ausgeplündert und unbewohnbar gemacht worden ist.
    Um das Maß des Menschen zu wissen, ohne es mit dem Maß der Dinge gleichzusetzen: das wäre echte Forschertugend! Mit Wahrheit hat das allerdings, da hat Nietzsche eben doch wieder Recht, nichts zu tun.

    1. Hm, den „Menschen als Maß der Dinge ernstnehmen“, also Rückkehr zum Anthropozentrischen Weltbild? Entstand nicht gerade daraus unsere ganze Malaise? Der Mensch wird ja auch nirgends wegdefiniert, sondern ist durch Triebhaftigkeit/ Gier/ Nihilismus überall am Zerstören, gerade weil er ja kein „Maß-Halten“ kennt. Darin hast Du allerdings recht: Viele (jedoch nicht alle) Naturwissenschaftler lassen sich für diese „Maß-Losigkeit“ instrumentalisieren; aber auch das gehört zum Nietzscheanischen „Allzumenschlichen“, hat also doch mit ‚Wahrheit‘ zu tun.

      1. Das Maß des Menschen kann man auch als Humanität bezeichnen. Nichts, was mir widerfährt, wenn etwa, wie vor kurzem, ein kleines Kätzchen mit triefenden Augen und ausgemergeltem Körper um mich herumstreicht, Köpfchen gibt und zum Herzerweichen maunzt, ist bloß ‚Natur‘, wie eine Freundin meinte, als ich ihr davon erzählte. Das Kätzchen habe ich dann nicht mehr wiedergesehen. Es wird wohl ‚krepiert‘ sein. Das geht mir nahe und ‚berührt‘ mich an einer Stelle, die meine Menschlichkeit ausmacht. Das ist das Maß des Menschen: alles, was er bewußt wahrnimmt, ist nicht mehr Teil der Natur.
        Die Gier und die Erbarmungslosigkeit, die viele Menschen an den Tag legen, ist nur eine Folge davon, daß sie ihr Maß, ihre Grenze nicht kennen und nicht fühlen. Das würde Nietzsche dann allerdings als ‚Stärke‘ bezeichnen. Meine Rührseligkeit wäre hingegen aus seiner Sicht ‚Schwäche‘.
        Dabei soll selbst Nietzsche, der Prophet des Übermenschen, der Legende zufolge zusammengebrochen sein, als er mitansehen mußte, wie ein Kutscher sein Pferd auspeitschte. Wie ich finde, ist das nur allzu menschlich.

  2. Maßnehmen setzt eine Referenz voraus. Auch das Urmaß, als z.B. Urmeter ist definiert. Messen ist also ein Vergleichen. Was also ist das Humanum oder das Maß des Menschen? M.E. kann das nicht von der bewussten Wahrnehmung abhängen. Aber es hat mit Bewusstsein insofern zu tun, als Messen eben Unterscheiden bedeutet. Die Unterscheidung Natur und Nicht-Natur z.B. erzeugt diesen Unterschied. Und dieses ist nichts anderes als Vorstellung, Meinung und damit unsere Schöpfung (Epiktet I,1 – Handbuch der Moral). Ich kann also die Maße ändern, denn die sind auch nur Vorstellung.
    Es liegt daher keine Maßlosigkeit vor, wenn ich Gier beobachte, sondern es sind unterschiedliche Maßstäbe, die ich beobachte. Und Epiktet weist darauf hin, dass hier die Dinge verwechselt werden.

    1. Ich habe mal kurz in den Duden geschaut: tatsächlich haben ‚messen‘ und ‚Messer‘ dieselbe Herkunft.
      Wenn wir von ‚Unterscheidung‘ sprechen, so ist diese beim Menschen mit seiner Körperleiblichkeit (Plessner) gegeben. Die ursprünglichen Maße bilden deshalb auch Körperteile und Bewegungsverläufe, etwa ‚Schritte‘. ab.
      Die Maßlosigkeit beginnt dann, folgt man Nietzsche, mit der Sprache (Stichwort ‚Metaphern‘). Hier hebt er auf den fehlenden Körperbezug ab: es führt kein kausaler Weg vom physischen Ding zum Gedanken und zum Wort.
      Plessner sieht das anders. Für ihn liegt das menschlicher ‚Maß‘ in der Spannung zwischen Körper und Geist (Gehirn). Es geht nicht um Raumabmessung, sondern um Raumeröffnung.
      Diese Raumeröffnung zieht eine ‚Grenze‘. Oder anders: Der Bewußtseinsraum eröffnet sich aus einem Bruch zwischen ‚uns‘ und der ‚Welt‘. Eben weil es keinen kausalen Weg vom einen zum anderen gibt!
      Diesen Bruch haben wir in bzw. an uns selbst: dem Körperleib. Deshalb haben wir Bewußtsein.
      Das menschliche ‚Maß‘ ist mit diesem inneren Bruch, dieser inneren Grenze verbunden. Es besteht in der Nicht-Meßbarkeit des in der Grenze, in dem Bruch sich eröffnenden Bewußtseinsraums.
      Deshalb die Maßlosigkeit der Gier und der Grausamkeit. Und deshalb auch die Notwendigkeit der Grenze, der Selbstbegrenzung. Menschliches Denken beobachtet sich selbst, hört auf sich selbst, lauscht den ‚Stimmen‘ (Intuitionen), die aus dem Körperleib aufsteigen. Menschliches Denken bewegt sich an dieser Grenze entlang.
      Denken, das sich davon löst, wird kontraintuitiv. Es wird gefährlich. Die ganze moderne technische Welt basiert auf kontraintuitiven Erkenntnissen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie. Dieses Denken hat sein Maß verloren.
      Nochmal dezidiert gegen Nietzsche gerichtet: Nicht mit der Sprache und ihren Metaphern hat der Mensch sein Maß verloren, sondern mit der Mathematik und ihren Formeln. Sprachliche Begriffe sind immer noch welthaltig, trotz des fehlenden Kausalbezugs zu physischen Dingen, denn sie haben eine Subjekt-Prädikat-Struktur. Mathematische Formeln sind nicht mehr welthaltig. Sie entspringen einer anderen, körperlosen Welt. Nietzsches Kritik geht am tatsächlichen Problem vorbei.

  3. @Detlef Zöllner
    Der Homo-Mensura-Satz, also die Aussage eines agnostischen Sophisten bzw. sophistischen Agnostikers, produzierte im Verlauf der Jahrhunderte ja schon so manche philosophische Stilblüte. So wird nur zu gerne die Rosine „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ herausgepickt, und der zweite Teil der Aussage unterschlagen. Es geht in dem Satz bekanntlich um „Dinge“, welche in zwei Formen auftreten können: in einer seienden und einer nichtseienden Form. Was „seiende“ Dinge sind, ist schnell erklärt: All jene Dinge, die vorstellendem Begreifen zugänglich. Nicht so bei den „nichtseienden“ Dingen. Denn was einem in vorstellendem Begreifen nicht zugänglich, kann logischerweise für diesen auch nicht existieren, und pochte ein solcher dennoch darauf, so plapperte da nur das Ergebnis erfolgreicher Indoktrination und Konditionierung.
    Das Problem bei „nichtseienden“ Dingen beginnt schon bei dem Versuch, zu klären, ob denn Dinge überhaupt „nichtseiend“ sein können, und falls ja, was da begründen könne, dass da von „Dingen“ gesprochen werden könne, da doch eigentlich die Zuweisung des Objekts „Ding“ dort nicht möglich sein kann, wo keinerlei Eigenschaften vorhanden, und die vorhandene Eigenschaft „nichtseiend“ nur eine einzige Eigenschaft implizierte, die da heißt: „eigenschaftslos“, da unbekannt. Wo aber keine Eigenschaft das Objekt spezifiziert, wird jede darauf aufsetzende intelligente Rede über solch ein Objekt zu reinem Zeitvertreib.
    Wer dies für Unfug hält, möge eine Rede halten, z. B. über das Objekt „Fxcerkswä“, das nur eine einzige Eigenschaft aufweist: Das Objekt ist „nichtseiend“, und daher ein „Ding“. Oder spreche er eine Metapher, die aus einem einzigen Satz besteht, und der Satz nur aus einer Aneinanderreihung von Punkten. Ich bin ganz Ohr. Oder bilde er eine Metapher über die Symbole der Algebra „0“ und „∞“. Und danach philosophiere er noch einmal, über Nietzsches Aussage vom Kolumbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauungen.

    1. „Und danach philosophiere er noch einmal, über Nietzsches Aussage vom Kolumbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauungen.“
      Ich weiß nicht, ob ich mit dem ‚er‘ gemeint bin. Aber Deine Ausführungen sind interessant, denn sie zeigen, daß Nietzsche mit der Feststellung, daß Nervenreize nicht auf „Dinge“ zurückführbar seien – „Von dem Nervenreiz aber weiterzuschließen auf eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.“ – nur das Kausalitätsprinzip zugrundelegt. Den Vorstellungscharakter des seienden „Dings“, als das, was wir uns vorstellen können, berücksichtigt er dabei nicht. Nietzsche zufolge wären dann alle „Dinge“ nichtseiend.

  4. Lieber Detlef Zöllner,
    das „er“ bezog sich auf jene, welche die vorangegangenen Ausführungen für Unsinn halten, und nicht auf Sie. Ob ich damit auch Sie angesprochen hatte, können daher nur Sie wissen, und nicht ich. Ich gebe zu, ich bin nicht besonders firm in der Konstruktion deutschsprachiger Sätze, aber ich lerne ständig hinzu. Sorry, für das produzierte Missverständnis.

  5. Nach wie vor hat der Mathematiker Frege das Problem von Wahrheit und Denken einfach aufgezeigt ins seiner Schrift „Der Gedanke“. http://www.gavagai.de/HHP32.htm
    Da findet sich auch das Beispiel vom Satz des Pythagoras, der unabhängig vom Träger wahr ist und auch dann wahr ist, wenn niemand diesen Satz als Bewusstseinsinhalt kennt. Diesen Gedanken hat wiederum Wilfred R. Bion aufgegriffen und angemerkt, dass Lügen und Irrtümer im Gegensatz zu einem wahren Gedanken immer einen Träger, d.h. einen Denker voraussetzen. Deshalb ist Descartes Annahme, dass Gedanken einen Denker voraussetzen nur für die Lüge notwendig. Die Wahrheit braucht keinen Denker.

    1. 1. Eine Wahrheit, die unabhängig von einem Träger ist und auch sonst noch von allem anderen außer von ihrer logischen Form, ist eine Wahrheit, die zeitlos ist.
      2. Eine Wahrheit, die zeitlos ist, paßt nicht zu der Welt, in der wir leben und in der alles seine Zeit hat.
      3. Eine Wahrheit, die keinen Denker braucht, interessiert mich nicht.

  6. @Detlef Zöllner: „Eine Wahrheit, die zeitlos ist, passt nicht zu der Welt, in der wir leben und in der alles seine Zeit hat.“

    Dann müssen wir beide vermutlich in zwei Welten leben, die zueinander disjunkt sind. Denn zu meinem größten Bedauern muss ich bekennen, dass meiner Wahrnehmung nach ich nicht in einer Welt lebe, in der alles seine Zeit hat. Dies setzte nämlich voraus, das ich wüsste, wann denn jeweils die Zeit wäre für jedes Etwas, und wann nicht. Dazu sehe ich mich außerstande, und ich versichere Ihnen, dass dies wahr ist, und auch immer wahr bleiben wird. Ich bitte daher, mich vom „wir“ (was immer damit auch angesprochen sein mag) auszuschließen.

    1. Also zumindestens das Leben hat seine Zeit. Erreuen wir uns also daran, solange wir noch leben. Auch sonst: Jahreszeiten haben ihre Zeit, Säen hat seine Zeit, Ernten hat seine Zeit … (frei nach Prediger Salomo).
      Und Lee Smolin zufolge hat auch das Universum seine Zeit.
      Und all diese Zeit kommt in der Mathematik nicht vor.

  7. @Detlef Zöllner
    Natürlich existiert eine Wahrheit, die keinen Denker braucht erst einmal nicht als Bewusstseinsinhalt. Die Existenz entsteht durch das Eintreten ins Bewusstsein. In der Mathematik sind das Existenzaussagen, die zunächst mal nur eine Vermutung sind und auf den Beweis warten. Und das kann Jahre dauern. Das bedeutet, dass es Denker gibt, die anders denken. Und dass es auch noch viele Voraussetzungen für den Beweis mancher Vermutungen geben muss. Es also durchaus Zeit braucht. Und Zeit und Raum existieren ja auch erst, wenn sie im Bewusstsein erscheinen.
    Nun wurde der schöne Satz des Protagoras hier angeführt: der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind und der nicht seienden, dass sie nicht sind. Für den Denker, dessen Urteilskraft oder Maß nicht so weit reicht, dass er Dinge nicht erkennt, die einem anderen als seiend nicht nur erscheinen, sondern der sich auch erfahren hat, ein solcher Denker lebt natürlich in einer anderen Welt. Wie kann man sich da aber verstehen? Man entwickelt eine gemeinsame Sprache – und die Mathematiker haben ja auch eine Sprache entwickelt.
    Und dass in der Mathematik die Intuition eine wesentliche Rolle spielt, ist in diesem schönen Filmausschnitt über Andrew Wiles „zeitlose“ Entdeckung zu sehen.
    http://www.youtube.com/watch?v=SccDUpIPXM0

    Zu dem Nachtrag:
    Es geht hier um Wahrheit und Lüge. Gedanken sind entweder wahr oder falsch. Wahre Gedanken brauchen keinen Denker – sie müssen nicht gedacht werden. Aber falsche Gedanken können ohne den Denker nicht existieren. Die Lüge braucht für ihre Existenz vor allem einen, der sie denkt und sie braucht auch einen, der sie mitdenkt, also die Kommunikation oder das „Wir“. Da das Denken ohne Sprache nicht möglich ist, hat hier Nietzsche schon den Punkt getroffen, wenn auch recht weitschweifig.

    1. Gedanken sind eben nicht wahr oder falsch. Sie befinden sich gewissermaßen in einem Quantenzustand: sie sind beides! Deshalb sind Gedanken allererst Metaphern, bevor sie zu Begriffen werden. Aber im Begriff ist der Gedanke so tot wie Schrödingers Katze in der Kiste.
      Gedanken brauchen immer einen Denker, denn sie existieren nicht außerhalb des Denkprozesses.

  8. Ob die Katze tot ist weiß man erst, wenn im Gedankenexperiment Schrödingers die Wellenfunktion des Systems zusammenbricht – d.h. die Kiste geöffnet wird – und dann kann auch die Katze lebendig sein.
    Ihre Gedanken brauchen keinen anderen Denker als Sie – denn sie sind ja vor allem in Ihrem Denken. Erst durch die Mitteilung – das Öffnen der Kiste – kann ein anderer erkennen, ob die Katze tot ist oder lebt [ Metapher] – anders gesagt, ob Ihre Gedanken einen Wert haben.
    Aber Sie wollten ja nicht verstehen, dass mir es um den Unterschied von wahren und falschen Gedanken geht – und wie schon angemerkt – der Satz des Pythagoras oder auch die Feynman-Diagramme, als Repräsentanten, brauchen keinen Denker. Die durch sie beschriebenen Wirklichkeiten sind davon unabhängig. Ansonsten würde ja der Denker diese Zusammenhänge durch seine Gedanken erschaffen. Damit wären wir aber wieder bei Protagoras, dem Sophisten angelangt. Wahrscheinlich ein Vorläufer der Radikalen Konstruktivisten.
    Der Denker braucht aber einen Maßstab über die Wahrheit seiner Gedanken. Und den findet er entweder in der Logik, sofern er beim Denken verbleibt oder in der Erfahrung, sofern er seine Gedanken an der Wirklichkeit testen kann. Und da geht es auch immer um „Katze tot oder lebendig“.

    Ich belass‘ das hier jetzt. Hat mich gefreut hier mal mich einbringenzu dürfen. Danke herzlichst.

    1. Es kommt tatsächlich auf das Nachschauen an. In diesem Moment fällt die Katze aus ihrem Quantenzustand heraus und ist nur noch tot (oder eben lebendig). ‚Tot‘ paßt besser zum Unterschied zwischen Metapher und Begriff. Solange Geanken Teil eines Denkprozesses sind, sind sie lebendig und können nur als Metaphern ausgedrückt werden.
      Mathematische Objekte widerstehen dem Denken. Wir können sie nicht anders denken als sie sind. Das macht ihren Gegenstandscharakter aus. Das ist aber, was ihre Gegenstandsähnlichkeit betrifft, auch schon alles. Wirkliche Gegenstände widerstehen nicht nur unserem Denken, sondern sie existieren auch in der Zeit. Sie existieren also im umfassenden Sinne. Insofern mathematische Objekte nicht in der Zeit existieren, sondern nur in ihrer Widerständigkeit zu unserem Denken, sind sie also bloße Gedankendinge, wenn auch von besonderer Art.
      Begriffe stehen immer am Ende eines Denkprozesses. Sie stehen für das Öffnen der Kiste. Und deshalb ist die Katze tot.
      Ebenfalls Danke für das Gespräch. Hat Spaß gemacht.

  9. Vielen Dank euch Dreien für die facettenreichen Anmerkungen zum Thema – man sieht, dass die Tragfähigkeit einer ‚Wahrheit‘ sowohl von der Perspektive innerhalb eines Bezugssystems abhängt wie auch von der (semantischen) Genauigkeit der Explikationen der dabei verwendeten Begriffe.
    Und vielleicht ergeht es uns allen dabei wie den Dorfbewohnern in Franz Kafkas „Schloß“: Jede(r) ist von dem undurchsichtigen Geschehen dort irgendwie abhängig und befindet sich zu ihm in einer lebensweltlich ‚realen‘ Beziehung, die sich von den Beziehungen der Anderen unterscheidet. Das Entdecken der ‚absolut‘ wahren Vorgänge im Schloß (die quantenmechanische Messung) ist nicht möglich, wie Kafka anmerkt: „Es gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen: wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“

    Auf ein ganz famoses Büchlein zum Thema möchte ich noch hinweisen:
    „Rüdiger Safranski: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“

    Eine Rezi dazu findet ihr hier: http://www.zeit.de/1990/46/einstuerzende-denkbauten
    – bei Gelegenheit schreib ich auch mal n paar Takte dazu…

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