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Nietzsche nicht nur zur Weihnachtszeit…

… und Philosophische Vitamine für untern Baum

Von allen Philosophen ist wohl Friedrich Nietzsche für begabte junge Menschen der mit dem rockigsten Identifikationspotenzial. Keiner sonst hämmert mit so einer kompromisslosen Verachtung gegen Kleinbürger-Werte und religiöse Popanzerei, keiner sonst beschwört mit solchem Pathos den ‚Übermenschen‘ im künstlerisch-genialen Welteroberer, als der jeder aufmüpfige Jugendliche sich selbst gern imaginiert, bis er sich oft genug die Flügel an den Gittern der Großen Voliere  gestaucht hat und sich dann doch lieber nach einer Philosophie des Scheiterns umsieht. Denn nur wenige traun sich nach den Disziplinierungsmaßnahmen des ‚Gesellschaftsvertrags‘ noch aufzusprechen und zu leben wie einst der Nietzsche-Inspirator Max Stirner: „Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster und dergleichen.“

friedrich nietzsche

Friedrich Nietzsche

Während heutzutage die Entwicklungspsychologen diese jugendliche Aufmüpfigkeit als biologisch-hormonellen Ausnahmezustand erklären (von hormonellen Überproduktionen und unfertigen Hirnarealen ist da gern die Rede), holte ich mir meinerzeit als 17-jähriger Rabauke lieber bei Nietzsche ein Alibi und damit gleichzeitig Stoff für den intellektuellen Distinktionsgewinn: „Der wahre Philosoph lebt unphilosophisch und unweise, vor Allem unklug und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens – er risquiert sich beständig, er spielt das schlimme Spiel…“
(aus „Jenseits von Gut und Böse„)

Nun lebte Nietzsche selber aber gar nicht so rockig und erst recht nicht nach dem von ihm postulierten „Willen zur Macht„, sondern war früh schon ein Aussteiger, sowohl aus den philosophischen Moden als auch aus der bürgerlichen Leistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts. Er schmiss mit 35 Jahren seine Professur für Alt-Philologie und erhielt nur eine kleine Rente, unterstützt durch Zuwendungen von Freunden und Familie.
Ohne karrieristische Ambitionen (und auch fast ohne Leser) musste er vor niemand mehr den Gefall-August machen und konnte in seiner Einsiedelei im Schweizerischen Sils-Maria Klartext reden und schreiben. So analysierte er auf seinen ausgedehnten Spaziergängen („Trau keinem Gedanken, der im Sitzen kommt!“) den mit der zunehmenden Industrialisierung wuchernden Kapitalismus als Feind alles Geistigen:
„Die gebildeten Stände und Staaten werden von einer großartig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung. […] Alles dient der kommenden Barbarei. Der Gebildete ist zum größten Feinde der Bildung abgeartet.“

Die Entwicklung des damaligen Bildungssystems war Nietzsche ein Gräuel, und gerade so, als blickte er damals schon auf unsere heutige Gesellschaft, sah er darin keinen anderen End-Zweck als den der allumfassenden Profit-Maximierung:
„Jede Bildung ist hier verhasst, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht. […] Nach der hier geltenden Sittlichkeit steht gerade das Umgekehrte im Preise, nämlich eine rasche Bildung, um bald ein geldverdienendes Wesen zu werden, und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur soviel Kultur gestattet, als im Interesse des allgemeinen Erwerbs und des Welt-Verkehrs ist, aber soviel wird auch von ihm gefordert.“

Wie Theo Roos in einem seiner „Philosophischen Vitamine“ (Teil 28) bemerkte, prophezeit uns Nietzsche alle Insignien des heutigen globalen Turbo-Kapitalismus aus seinen Anfängen: Shareholdertum, das Taxieren der Dinge nach ihrem Marktwert statt nach unserem persönlichen Bedürfnis und nicht zuletzt die Gier nach immer größeren Gewinnen. Die höheren Stände, die Handeltreibenden, heute würden wir sagen die Manager, Shareholder, Leistungsträger, kurz die Elite der Gesellschaft, sind Nietzsche suspekt:
„Woher diese unmäßige Ungeduld, welche jetzt den Menschen zum Verbrecher macht. […] Wenn drei Viertel der höheren Gesellschaft dem erlaubten Betruge nachhängt und am schlechten Gewissen der Börse und der Spekulation zu tragen hat: Was treibt sie? Nicht die eigentliche Not, es geht ihnen nicht so ganz schlecht, vielleicht sogar essen und trinken sie ohne Sorge, aber eine furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu langsam häuft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehäuftem Gelde drängt sie bei Tag und bei der Nacht.“ ( aus „Morgenröthe“)

Zu Nietzsches Zeit war die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes noch nicht sehr vorangekommen, der Christbaum war ja auch gerade erst in die bürgerlichen Wohnstuben eingeführt worden, aber wer sich heute allabendlich die Frohe Botschaft von den Umsatzsteigerungen im Weihnachtshandel in den Nachrichten anhört und ein wenig mitdenkt, der kommt wohl nicht umhin, die ursprüngliche Symbolik des Festes zu Einkehr und Besinnung auf den Kopf zu stellen und Weihnachten als das alljährliche Hochamt dieses Turbo-Kapitalismus zu erkennen. Und wenn einer auch noch Mut zur Selbstreflexion hat, mag er dann mit Nietzsche drüber nachdenken: „Wer und wie viele konsumieren dies? ist die Frage der Fragen.“


Und damit bei aller Konsumkritik die Frage nach dem Glauben nicht zu kurz kommt, gibts dazu noch ein philosophisches Vitamin aus dem „Philosophischen Kopfkino“, ein wenig Nietzsche inclusive:

Möglicherweise hat das Ende des Filmchens jetzt bei manchen von euch ein Fragezeichen hinsichtlich des Verhältnisses „Glaube – Philosophie“ hinterlassen; die beiden müssen sich aber nicht ausschließen, zumal beide sich mit existenziellen Bedürfnissen des Mensch-Seins beschäftigen. Der dänische Philosoph und überzeugte Christ Søren Kierkegaard (1813-1855) etwa meinte, dass man gerade wegen der „objektiven Unsicherheit“, dass es keinen Gott gibt, zu einem Gläubigen werden sollte. Und um so einen freiwillig gewählten „Sprung in den Glauben“ mitsamt einem Leben in „Furcht und Zittern“ aushalten zu können, empfielt er:

„Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.“ (Søren Kierkegaard)

Das, liebe Leser, soll dann auch dieses Jahr mein Weihnachtsgruß an euch sein – so als kleine Notiz für untern Baum…

wf

(Kommentare dazu auch im „Freitag„)


5 Gedanken zu „Nietzsche nicht nur zur Weihnachtszeit…“

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