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Die Neuromythen der Neurogesellschaft

Der große Hype um die vermeintliche Leistungsfähigkeit der Neurowissenschaften hinsichtlich der Erklärbarkeit des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens, der Willensfreiheit, Moral, Wahrheit & Lüge scheint seinen Zenit überschritten zu haben, auch wenn man als Wissenschaftler jeglicher Couleur noch immer bei entsprechend laut getrommeltem Neuro-Overstatement mit medialer Aufmerksamkeit belohnt wird und reichlich Geldmittel aus allerlei Fördertöpfen abschöpfen kann. Die ‚wissenschaftlichen‘ Etiketten können zu diesem Zweck fast beliebig beschriftet werden, wie etwa Neurotheologie, Neuroökonomie, Neurorecht oder Neuroästhetik. Alle machen ja irgendwie Hirnforschung.

Aber es gibt seit einigen Jahren, auch in Deutschland, eine erstarkende Critical Neuroscience, die auf bedenkliche Entwicklungen in den Neurowissenschaften hinweisen und dem Neurohype ein wenig die Luft ablassen will.
So sieht etwa der Psychologe und Jura-Professor Stephen Morse mit Blick auf neurowissenschaftliche Anwendungen im Rechtssystem ein „Brain-Overclaim-Syndrome“; Ed Vul, Assistant Professor an der University of California, sprach hinsichtlich der ‚erstaunlichen Erkenntnisse‘ der Hirnforschung gar von „Voodoo-Korrelationen“ und Stephan Schleim stellte in seinem Buch „Die Neurogesellschaft – Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert“ am Ende die aufmüpfige Frage, ob es in der Neurogesellschaft um die Hirnforschung selbst oder doch eher um die Autorität mancher Hirnforscher geht.

Auch der Psychopharmakologe Felix Hasler wetterte kürzlich in einem SPIEGEL-Interview gegen den Erkenntniswert von Hirnscans und nun legt er in einer Streitschrift gegen die »Neuro-« Zwangsmodernisierung vieler Wissenschaftsdisziplinen, gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten, einigen Klartext nach.

Hier nun stellt der Autor seinen Essay „Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“ selber vor – ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.

 


Hasler - Neuromythologie

Felix Hasler

Neuromythologie

Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung
(3., unveränderte Auflage 2013)

2012, 264 S., kart., 22,80 €
ISBN 978-3-8376-1580-7
Reihe X-Texte

 


SPIEGEL-Interview mit Felix Hasler

Buchrezension in „Erkenntnisethik“

„Hirnforschung: Auf wackligen Füßen“  – Artikel in Spektrum

 

wf

10 Gedanken zu „Die Neuromythen der Neurogesellschaft“

  1. Neurokritisches gab’s schon Jahre zuvor – vor allem von überragenden Fachleuten wie z.B. dem hochverdienten australischen Synapsenforscher Max R. Bennett (2003 in „Philosophical Foundations of Neuroscience“, seit 2010 auch auf Deutsch bei der WBG Darmstadt – s http://alturl.com/yiaru – und 2008 History of Cognitive Neuroscience – beide mit Peter M.S. Hacker) oder bei uns von den neurophysiologischen Altmeistern und Entdeckern des „mBP“ = motorischen Bereitschaftspotentials (das durch die Libet-Experimente auch allgemein bekannt geworden ist), nämlich Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke in ihrem letzten gemeinsamen Buch „Wille und Gehirn“ (Edition Sirius 2007, ²2009 hier http://alturl.com/myfzw ) u.v.a.

    Die meisten Journalisten haben davon nur keine Kenntnis genommen; das letztgenannte ziemlich kurze Büchlein ist zB. in jetzt über sechs Jahren seit seinem ersten Erscheinen m.W. in keiner der überregionalen Tages- oder Wochenzeitungen oder in Fachmagazinen wie G&G, in denen sonst jedes sensationell klingendes oder hinstellbares Hüsteln oder Räuspern von (insb. gewissen) Hirnforschern eilfertigst berichtet wurde, jemals rezensiert worden. D.h. „die Öffentlichkeit“ wurde bisher – selbst von unseren Wissenschaftsjournalisten… – nicht richtig und schon gar nicht vollständig informiert!

    1. Danke für die Ergänzung, IWK, denn wenn schon „unsere Wissenschaftsjournalisten“ nicht sorgfältig zu dem Thema informieren (wenn’s nicht schlagzeilig verabeitet werden kann), wird das halt hier gemacht ;-)

      Die Neurokritik ist by the way noch viel älter, denn schon zu der im 19. Jahrhundert erstmals ausgerufenen „Neuro-Revolution“ und dem damaligen Medien-Hype konstatierte seinerzeit der österreichische Anatom Josef Hyrtl:

      „Die Erfolge der materialistischen Weltanschauung beruhen nicht auf der Klarheit und Unangreifbarkeit ihrer Argumente, sondern auf der Kühnheit ihres Auftretens und in dem herrschenden Geiste der Zeit, welcher Lehren dieser Art um so lieber popularisiert, je gefährlicher sie der bestehenden Ordnung der Dinge zu werden versprechen.“
      (Josef Hyrtl, 1864/1897, S. 36f. – Zitat via Stephan Schleim)

  2. Ingo-Wolf Kittel, Augsburg

    Ja wf, hier http://oxnzeam.de/2009/10/23/journalisten-vorurteile-gegen-die-philosophie-des-geistes/ hatten wir das Thema Berichterstattung in den Medien schon mal: am Beispiel der SZ…

    Dass Neurokritik sehr viel älter ist, weiß ich aus meinem Fachbereich: Karl Jaspers hat vor exakt einem Jahrhundert in seiner 1913 erschienenen „Allgemeinen Psychopathologie“ – bis heute die Bibel der Psychiatrie – auch schon die „Hirnmythologie“ als geläufiges „Vorurteil“ gegeißelt.

    Danke für das herrliche Zitat von Hyrtl aus Schleim’s Buch „Von der Neuroethik zum Neurorecht“ (2009). Allerdings wird darin nicht direkt die Überschätzung der Möglichkeiten der Neurowissenschaft geißelt, Psychisches zu erklären. Auch in dem hier http://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Hyrtl#Zitat zu findenden größerem Ausschnitt von Hyrtl’s Inaugurationsrede beim Antritt seines Rektorats an der Wiener Universität im Jahre 1864 ist davon nicht die Rede.(*)

    Nur führen noch die wildesten Weltanschauungsschlachten zu keiner Klärung des realen Verhältnisses von Hirnvorgängen und psychischen, insbesondere „kognitiven“ oder Denkleistungen. Hier ist eine realistische Klärungen nötig. Zu diesen ist meinem beschränkten Eindruck nach von Seiten der akademischen Psychologie bislang nicht mehr beigetragen worden als von Seiten der Neurophysiologie.

    Neben dem Neurophysiologen Max Bennett und dem Philosophen Peter Hacker, die sich in ihren schon erwähnten ersten Werk bemüht haben, die grundlegendsten, weil schon sprachlich bedingten Irrtümer in der bisherigen Hirnforschung zu klären (hierzulande wäre noch Peter Janich mit seinem Beitrag zur edition unseld Nr. 21 „Kein neues Menschenbild – Zur Sprache der Hirnforschung“ 2009 zu nennen), hat nach meinem Eindruck der doppelt qualifizierte Essener Philosoph Dirk Hartmann in seinen hier http://alturl.com/jbnbn online gestellten Werk über „Philosophische Grundlagen der Psychologie“ dazu bislang noch am meisten geliefert. (Seine Darstellung und Diskussion des „Leib-Seele-Problems in der Analytischen Philosophie“ in Teil III allein ist schon die Lektüre wert.)

    Hirnforscher ihrerseits müssten über sinnesphysiologische Wahrnehmungsforschungen hinaus endlich mal plausible Vorstellungen davon und Hypothesen darüber entwickeln, worin sich neurophysiologisch unser Vorstellungsvermögen zeigt! Angefangen bei unserem spezifischen „Erinnern“ í­.S. eines Sichvorstellens von Erlebtem bis hin zu den komplexesten Denk- und Phantasieleistungen beruht nämlich unser gesamtes Denken auf dieser Fähigkeit, wie der Philosoph Colin McGinn in dem hier http://alturl.com/ujgu5 angezeigten und psychologisch erstaunlich stimmigen Werk plausibel gemacht hat. (Schade, dass Julian Jaynes diese Einsichten nicht kannte, als er seine – in seinem epochalen Werk von 1976 zum „Ursprung des Bewusstseins“ dargestellten – evolutionspsychologischen Überlegungen zur historischen Entwicklung unseres Denkvermögens angestellt hat… )

    ———————————
    Wie hier http://books.google.de/books?id=X_MnasoUZ14C&pg=PA41&lpg=PA41&dq=Hyrtl+1864+1897&source=bl&ots=EyQX5SwN45&sig=VNXC4ZgAgpDF3UIrXd14ZVw-wv8&hl=de&sa=X&ei=4H2iUbzwMtT54QSyloCoDw&ved=0CC8Q6AEwAA#v=onepage&q&f=false nachzulesen ist, weist Schleim auf S. 41 aber auf die dazu relevanten Stellen der Rede hin.

    1. Ganz interessant, den Artikel und vor allem die Kommentare bei http://oxnzeam.de/2009/10/23/journalisten-vorurteile-gegen-die-philosophie-des-geistes/ in diesem Zusammenhang wieder mal zu lesen, könnten ja passenderweise auch hier stehen. Und ich geh mal davon aus, dass hier auch in Zukunft gelegentlich der unsaubere Wissenschafts-Journalismus (nicht nur im Zusammenhang mit Neuro-Themen) auf den Tisch kommt – siehe auch das aktuelle „Texterl zum Tage“ ;-)
      Da mir ja nun auch selber eine fachlich grundierte Kompetenz in Neuro-Angelegenheiten fehlt (sieht man mal vom gelegentlichen Funktionieren meiner Synapsen ab), bin ich immer dankbar für weiterführende Kommentare wie die von dir, lieber IWK. Auch wenn’s mir und wohl den meisten Lesern hier wohl aus Zeitmangel nicht vergönnt sein wird, all die von dir verlinkte Literatur auch zu lesen. Aber schon das Reinschnuppern in die dort vertretenen Denkansätze kann ja die eigenen ein wenig erweitern…

  3. Gibt es irgendwelche Erklärungen der Neuro-tiker zu den Phänomenen, welche im Hirn des toten Fisches gescannt wurden? Bin neugierig.
    Falls nicht, wären auch die Hirnforscher nicht frei von den drei anthropologischen Konstanten Selbstgefälligkeit, Indoktrination und Rechthaben ;-)

    1. Ah schön, lieber Detlef Zöllner, du hast ja aus der Hasler-Lektüre wieder eine kleine Artikelserie zum Thema gemacht; wie immer recht ausführlich und differenziert, so dass sich die Interessierten einen guten Eindruck davon machen können – habs auch oben im Artikel verlinkt, sei allen Leserinnen hiermit bestens empfohlen.

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