Warum glaubt man denen wohl nicht, die beim Barte des Propheten feierlich Demokratisierung und gesellschaftlichen Wandel versprechen? Die „Arabellionäre“ lassen sich jedenfalls nicht täuschen, wollen ihre Vorstellungen von einer offenen Gesellschaft nicht marginalisieren lassen und rufen nun über ihre Internet-Medien zu einer Wiederbelebung des Volksaufstands gegen die (immer noch) herrschenden Autokraten- und Fundamentalisten-Cliquen. Genau zu diesem 23. Oktober 2012, dem Tag, an dem die Verfassungsgebende Versammlung in Tunesien (dem „Anschieber“ der arabischen Revolte) für ein volles Jahr im Amt gewesen sein wird.
Die Vorreiterrolle Tunesiens bei der Arabellion hat auch damit zu tun, dass es als relativ technologisiertes Land dort früher als anderswo einen politischen Internet-Underground gab, der sich schon seit 2001 in Blogs und Foren, später auf Facebook, artikulieren und organisieren konnte. Dabei spielt bis heute die Widerstandswaffe der Satire eine wichtige Rolle und es entstanden zahllose Cartoons und Karikaturen, die niemals in einem ‚legalen‘ Medium hätten erscheinen dürfen.
Meine Intention, ein paar davon euch, liebe Leser, hier vorzustellen, gründet zum einen auf der Tatsache, dass in unseren Medien der satirische Widerstand gegen den islamistischen Fundamentalismus nur dann wahrgenommen wird, wenn er von „Kulturschaffenden“ aus den eigenen „aufgeklärten“ Kreisen kommt und mit einem Bedrohungs-Szenario verbunden ist (wie etwa im Fall Charlie Hebdo). Aber dabei kaum vermittelt wird, dass es eben auch in den arabischen Ländern eine solche Szene gibt, die trotz starker Gefährdung durch ihre „Glaubensbrüder“ den Geist der „Aufklärung durch Satire“ wach hält. Dadurch wird auch erkennbar, dass die „Arabellion“ ein andauernder Prozess ist, der sich nicht mit dem Austausch von ein paar Politikern und Potentaten zufrieden gibt, sondern hauptsächlich eine Befreiung von Dogmatismus jeder Art zum Ziel hat. Und: es ist auch eine „Arabellion“ der Frauen.
Und zum Anderen soll, obwohl eigentlich selbstverständlich, mit diesem Beitrag auch daran erinnert werden, dass die politische und kulturelle Entwicklung der islamischen Länder eine entscheidende Rolle dabei spielt, wie das Zusammenleben unserer Weltgesellschaft in Zukunft friedlich und freiheitlich gestaltet werden kann.
Um diesen Blogbeitrag zu realisieren, hat die deutsch-tunesische Politik- und Islamwissenschaftlerin Khadija Katja Wöhler-Khalfallah, die den Revolutions- und Emanzipationsprozess in den arabischen Ländern, besonders natürlich in ihrem Heimatland Tunesien, von Anbeginn beobachtet und analysiert hat, aus ihrem umfangreichen Archiv nicht nur einen ganzen Schwung satirischer Cartoons von arabischen Blogs und Facebookseiten ausgepackt, sondern für die „Philosophischen Schnipsel“ auch einen erläuternden Essay dazu verfasst:
Facebook-Aufklärung in Tunesien: Die politische und kulturelle Revolution geht weiter
von Khadija Katja Wöhler-Khalfallah
Bereits die „Revolte der Würde“, wie sie in Tunesien am liebsten genannt wird (Romantiker hatten doch bereits Ben Alis Machtergreifung 1987 als „Jasminrevolution“ bezeichnet), dürfte undenkbar gewesen sein ohne die Zivilcourage tunesischer Blogger. Schon im Juni 2001 war es dem tunesischen Richter Mokhtar Yahyaoui, Präsident der 10. Kammer, nur möglich, öffentlich die Missstände der tunesischen Justiz anzuprangern und die Unabhängigkeit der dritten Gewalt einzufordern, weil sein Neffe Zuhair Yahyaoui bereit war, dies zu veröffentlichen. Dieser betrieb eine Satire-Website, TUNeZINE.com, mit offenem Diskussionsforum. Der Richter verlor darauf hin sein Amt, der Cyber-Dissident musste eine 18monatige Gefängnisstrafe abbüßen, weil er angeblich falsche Informationen über das Internet verbreitet hatte. In jener Zeit erfuhr er Schikane und wurde bei Verhören gefoltert, worauf er u.a. in sieben Hungerstreiks trat, bevor er 2005 im Alter von 36 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb. Er sollte der erste Märtyrer der tunesischen Blogger werden, doch anstatt abzuschrecken, verlieh sein Tod der immer größer werdenden Szene nur noch mehr Nachdruck und Beharrlichkeit.
Tatsächlich fanden in Tunesien schon lange vor dem sogenannten „arabischen Frühling“ Selbstverbrennungen und Aufmärsche statt, allein blieben sie meist wegen der auf Linie gebrachten Presse vor der Öffentlichkeit verborgen. Erst die Initiative junger Internetnutzer, die sich bis dahin oft den Vorwurf gefallen lassen mussten, ein sinnloses Dasein zu führen und ihre Leben tatenlos vor dem Rechner zu verschwenden, vermochte es, diesen Schleier zu lüften. Blogger wie Lina Benmhenni und Slim Amamou gingen auf die Straße, reisten durchs Land, filmten mit ihrer Digitalkamera oder ihrem Handy gesehenes Unrecht, stellten das Material online und vermochten es später sogar an al-Jazeera oder France 24 weiterzuleiten. Jetzt erhielt die breite Masse Kenntnis von den Vergehen des Regimes und dessen repressiver Polizeigewalt, was Jung und Alt, Arbeiter und Akademiker, Arm und Reich, Mann und Frau, Gläubige und Atheisten gleichermaßen mobilisieren sollte.
Was zu diesem Zeitpunkt allerdings nur Kenner der Geschichte vorauszuahnen vermochten, war der Umstand, dass mit der Vertreibung des verhassten Präsidenten und der Wiederherstellung der Pressefreiheit, der radikalen Öffnung des Büchermarktes sowie dem Erwachen einer echten Zivilgesellschaft der Kampf noch lange nicht gewonnen war. Erst galt es noch, die alten Kader aus Ben Alis Regierung zu vertreiben. Wie nannte es der Volkswitz: „Ali Baba ist geflohen, aber die 40 Räuber sind noch da.“ Doch schon bald sollte sich die Aufmerksamkeit auf das Abwehren neuer Gefahren konzentrieren. Mit der Öffnung strömten einstige Oppositionelle ins Land, Wohlmeinende wie Opportunisten, Freunde wie Gegner der Demokratie. Einer, der wohl eher letzteren zuzurechnen ist, war Rached al-Ghannouchi, ein tunesischer Muslimbruder, der bis dahin im Londoner Exil den fundamentalistischen Islam über den europäischen Fatwarat zu verbreiten suchte, einen Rat, der auf Initiative der islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD), Gründungsmitglied im Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), ins Leben gerufen wurde und von dem bedeutendsten noch lebenden Ideologen der Muslimbruderschaft, Yussuf al-Qaradawi, angeführt wird.
Als bekannt wurde, dass Ghannouchi seine Ankunft am internationalen Flughafen von Tunis für den 30.01.2011 geplant habe, wurde auf Facebook ein Aufruf lanciert, die Tunesierinnen sollten ihn im Bikini in Empfang nehmen. Alte Gemälde wurden photomontiert, die ihn als Kalifen darstellten, entspannt auf einem Thron liegend und dabei den halbnackten Haremsdamen beim Tanz zusehend. Als ihm statt dessen von nicht wenigen Tunesiern ein Empfang bereitet wurde, der an die Rückkehr Khomeinis 1979 in den Iran erinnerte, konnte eine Ahnung davon gewonnen werden, was dem liebenswerten und nach Freiheit dürstenden kleinen Land noch bevorstand. Tatsächlich begannen fast zeitgleich Salafisten in ihren biblischen Gewändern immer aggressiver den öffentlichen Raum zu vereinnahmen, Universitäten zu besetzen, um den Niqab, den Ganzkörperschleier, durchzusetzen, Synagogen anzugreifen, gegen Filme, die sich für Laizität aussprachen und Kunstausstellungen, in denen Plastiken von gesteinigten Frauen und Bilder von rasenden Salafisten und auf Sexualität, Kochen und Putzen reduzierten nackten Frauen ausgestellt wurden, gewaltsam zu stürmen.
Die Häme auf Facebook und im World Wide Web wurde immer beißender, zumal die ENNAHDA seit ihrer Wahl ins Parlament keine Gelegenheit auslässt, sich zu diskreditieren. Statt sich der dramatischen Wirtschaftslage, der hohen Arbeitslosigkeit und der benachteiligten Regionen anzunehmen, zeigen sie ein besonderes Interesse daran, die Mehrehe sowie die zeitlich befristete Lustehe und die Ehe mit Minderjährigen wieder einführen zu wollen, sowie radikalen Predigern aus den Golfstaaten, die die Frauenbeschneidung anpreisen, ein Forum zu bieten. Natürlich sorgten die Moralapostel, genauso wie ihre normalsterblichen Vorgänger, dafür, dass ihre Verwandten und Bekannten mit guten Posten versehen und die Diäten der Abgeordneten, von denen 40% der ENNAHDA angehören, großzügig angehoben wurden. Seitdem wird jedes Fehlverhalten auf Facebook und immerhin jetzt auch in der Presse bloßgestellt, teils durch Karikaturen zugespitzt, teils durch fast schon philosophische Abhandlungen über Freiheit, Religion, Laizität, Pressefreiheit, das Wesen von Demokratie etc. dokumentiert. Die Versuche der ENNAHDA, die Scharia in der Verfassung als Quelle der Gesetzgebung zu verankern, die Gleichberechtigung von Mann und Frau aufzuheben, einen religiösen Rat einzurichten, der die Schariakonformität verabschiedeter Gesetze zu überwachen hat, die Pressefreiheit einzuschränken und ein Gesetz, das Blasphemie unter Strafe stellt, durchzusetzen, waren alles Unternehmungen, die dank der Wachsamkeit der tunesischen Zivilgesellschaft und sicherlich der schnellen Verbreitung von Presseberichten oder selbst gewonnener Erkenntnisse durch die Bloggerszene fast komplett abgewehrt werden konnten. Jüngst gelang es sogar, ein Video in Umlauf zu bringen, in dem Ghannouchi bei einem Gespräch mit Salafisten aufgenommen wurde, in dem er sie zur Geduld aufruft und sie anhält, ihre Ideen in der Gesellschaft zu verankern, Schulen, Universitäten, Fernsehsender und Radiostationen zu errichten, und ihnen zu bedenken gibt, dass sein Handlungsvermögen durch immer noch präsente Anhänger des alten Regimes in Verwaltung und Armee gebremst werde.
Was auch immer dem Land noch an Prüfungen bevorsteht, die Facebookaktivisten werden nicht müde, die Bigotterie der ENNAHDA und der Salafisten bloßzustellen. Besonders beißend war der Sarkasmus, als eine junge Tunesierin von drei Polizisten vergewaltigt wurde, aber nicht die Täter, sondern das Opfer vor Gericht gestellt und wegen der Verletzung der öffentlichen Moral verurteilt wurde. Neben Berichten von tunesischen Menschenrechtlern, die die Tat verurteilten, Aussagen des Opfers und Bilder ihres geschundenen Körpers montierte die Facebook-Seite „L’Inconnu“ ein Bild, dass den in Wallung geratenen Innenminister vor den hochgehaltenen Beinen einer offensichtlich zu vergewaltigenden Frau darstellt und darunter den Kommentar „Viol Halal“ („religiös legitimierte Vergewaltigung“) wiedergibt. Nicht geringer war die Entrüstung, als wütende Horden als Reaktion auf den Film „The Innocence of Moslems“ begannen, Botschaften zu verbrennen und Menschen, die ihnen in den Weg gerieten, zu töten. Um so stolzer war die Webgemeinde, als sie darüber berichten konnte, dass Zehntausende libysche Zivilisten nach der Ermordung des amerikanischen Botschafters in Bengazi in der Lage waren, die für verantwortlich befundenen salafistischen Milizen zu vertreiben. Nachahmung war selbstverständlich erwünscht.
Natürlich wird auch die Verbindung der ENNAHDA nach Qatar und Saudi-Arabien bloßgestellt. Unaufhörlich wird darauf hingewiesen, dass die ENNAHDA und ihr radikaler Arm, die Salafisten, Boten der in Saudi-Arabien verbreiteten wahhabitischen Sekte sei, der dem toleranten tunesischen Islam zuwider ist. Dabei bietet es sich an, die immense Verschwendungssucht saudischer Scheikhs dadurch anzuprangern, dass sie Bildern von verhungernden Menschen gegenübergestellt wird. Mit dem Näherrücken des 23. Oktober 2012 häufen sich auf Facebook inzwischen wieder die Aufrufe zur nächsten Revolution. Sich empörende Rap-Lieder werden aufgenommen, als Einstimmung wird erneut die Nationalhymne verbreitet und sogar ein eigens dafür komponiertes offizielles Lied für den Umsturzaufruf am 23. Oktober online gestellt. Denn an diesem Tag wurde vor einem Jahr die Verfassunggebende Versammlung gewählt. Damals hatten alle Teilnehmer einschließlich der ENNAHDA keinen Zweifel daran gelassen, dass sie im Zeitraum eines Jahres einen zivilen modernen demokratischen Gesellschaftsvertrag zustande bringen wollten. Ist dies bis dahin nicht der Fall, beginnt ein neuer Akt. Allerdings anders als vor bald zwei Jahren wird Tunesien heute in zwei Lager geteilt sein. Möge die Vernunft den Sieg davon tragen. VIVE LA REVOLUTION.
„An den Tyrannen“ aus dem Diwan „Lieder des Lebens“, aus denen die vier letzten Verse in die tunesische Nationalhymne aufgenommen wurden
„Man sagt : ‚Die Stimme der Unterdrückten ist kaum zu vernehmen,
und die Tyrannen der Erde hören nur schwer.‘
Doch der Aufschrei des unterdrückten Volkes erschüttert die Throne und lässt sie fallen, zerstört sie.
Der Hall der zornigen Wahrheit tönt fort, der Krieg dröhnt laut voller Wut.
Wenn sich das Volk eines Tages um die Wahrheit drängt,
dann zerbricht es den Lauf der Geschichte und bestimmt sein Geschick.
Wehe Dir Unterdrücker, fürchte das Morgen!
Steht das Volk erst auf und zeigt sich entschlossen,
zerreißen die vermeintlich Schwachen erst ihre Fesseln
und gießen das siedende Wasser der Verdammnis aus,
dann wirst Du begreifen.“
Abulqasim asch-Sschabbi (1909-1934), aus dem Arabischen übersetzt von Michaela Kleinhaus in INAMO SPEZIAL, Jahrgang 17, Frühjahr 2011, S. 76
Khadija Katja Wöhler-Khalfallah
Um diesen Blog-Beitrag nicht zu überladen, werden in den nächsten Tagen hier noch einige Cartoons nachgereicht; obwohl viele ja ikonographisch selbsterklärend sind, ist für ein genaueres Verständnis bei manchen doch eine Übersetzung der Textinhalte aus dem Arabischen hilfreich. Aber wer des Französischen mächtig ist, kann ja schon mal auf der Website La Progressiste weiterstöbern…
Anscheinend benutzt man in den arabischen Ländern Facebook & Co sinnvoller als bei uns.
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Was ist schon von Kreisen zu halten, die auch noch vier Ecken aufweisen. So ist z. B. jede Tätigkeit, jeder Gegenstand und jede Fragestellung, die das Gemeinwesen betreffen, also jegliche Politiká (Πολιτικά) per se weder Ausprägung einer Religio, noch kann sich jenes auf eine solche berufen, da die Wesenheit von Politiká und Religio durch gegensätzliche Eigenschaften gekennzeichnet. Daher ist es ebenso unsinnig, wenn Handlungen der Politiká nach innen gerichtet, wie es unsinnig ist, wenn Handlungen der Rückbindung nach außen gerichtet.
hier noch ein schöner Nachtrag zu dieser Sammlung: