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Zur Typologie der Dilettanten

Georg Christoph Lichtenberg

Ach, könnt die Welt nicht eine bessre sein, wenn’s keine Dilettanten gäbe? Die Beispiele, wie durch Inkompetenz und Ignoranz politischer, sozialer und wirtschaftlicher Unsinn angerichtet wurde und wird, sind unzählig. Doch andererseits: wo kämen wir denn hin, wenn’s keine Dilettanten gäbe? Die Beispiele, wie leidenschaftliche Amateure in Kunst, Philosophie und Wissenschaft großartige Werke und bahnbrechende Entdeckungen in den Mem-Pool der Menscheit eingebracht haben, sind unzählig.
Nun wäre aber die simple Einordnung eines Dilettanten auf die eine oder andere Seite dieses Gut-Böse-Schemas ein Zeichen dilettantischer Komplexitätsreduktion, weshalb wir, die sich gern im Anschein intellektueller Redlichkeit sonnen, uns der Mentaltypologie dieser Spezies zunächst mit einer Ausdifferenzierung nähern wollen. Alsda wären:

  • Der Dilettant als „Liebhaber“ einer Sache; übt diese um ihrer selbst willen aus, also aus privatem Interesse oder zum Vergnügen, quasi der Amateur im olympischen Geiste
  • Der Dilettant in ideologischer und/oder religiöser Verblendung, der seinem Gott zuliebe die Kritikfähigkeit geopfert hat; etwa Gurus, Päpste, Hedgefonds-Manager…
  • Der Dilettant, dem die Phantasie für eigene Götter fehlt, als Mitläufer des Vorhergenannten
  • Der Dilettant aus falscher Berufung – wird nach dem Peter-Prinzip auf eine seine Fähigkeiten überfordernde Position gehieft
  • Der Dilettant als Revoluzzer gegen undurchschaubare komplexe Systeme – Dilettantismus wird dabei zum ästhetisch-politischen Programm (Punker, Poetry-Slammer, Piraten…)
  • Der Dilettant mit narzisstisch übersteigertem Geltungsbedürfnis; beharrt umso mehr auf seinem vorgeblichen Wissen, je mehr man es anzweifelt (Stammtisch-Schwadroneure, Journalisten, Literaturkritiker etc.)
  • Mit Vorhergehendem eng verwandt ist der Dilettant als besserwisserischer Adabei: der Nachbar am Schrebergartenzaun, der Kiebitz beim Schach oder Kartenspiel … (übrigens wurden schon bei den Alten Ägyptern Leute aus dem niederen Volk als „Kiebitze“ bezeichnet)

Natürlich haben Sie, lieber Leser, längst erkannt, dass diese Grundformen des Dilettantismus in reiner Ausprägung nur selten vorkommen, vielmehr finden sich changierende Mischungen dieser Genres bei fast allen freilaufenden Dilettanten. Allerdings hat sich diese Vielfalt erst im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Spezialisierung in Technik und Wissenschaften entwickelt. Vorher war der „Dilettant“, mochte er auch weitgehende Kenntnisse und Fähigkeiten erlangt haben, im italienischen Ursprungs-Wortsinn einer „der sich an etwas erfreut“ (wie unter Topos 1 beschrieben). Etwa so wie Preußenkönig Friedrich der Große als Musiker und Komponist oder der Musiker Wilhelm Herschel als Astronom.
Heutzutage allerdings versteht man im Alltags-Sprachgebrauch unter einem „Dilettanten“ einen unzureichend ausgebildeten Stümper, der bei aller Liebe für eine Sache seine Fähigkeiten überschätzt und jener oft mehr schadet als nützt, zumal wenn er eine Schlüsselposition in Politik, Kultur oder Wirtschaft inne hat.
Dazu kommt, vor Allem in Deutschland, eine starke soziopathologische Qualifikationshörigkeit, die mit ihrer Normierungskraft dafür sorgt, dass jemand, unabhängig von seiner tatsächlichen Kompetenz, bei einer Tätigkeit als Dilettant gilt, solange er diese nicht professionell ausübt, um also seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, oder eine entsprechende, ‚amtlich‘ anerkannte Ausbildung absolviert hat. In den USA dagegen betrachtet man den Dilettanten bis heute mit einigem Wohlwollen, haftet ihm dort doch noch etwas vom everything goes des Pioniergeists der Gründerjahre an; einer aus der unteren Liga, der sich Kraft seiner Leidenschaft und dem persuit of happiness nach oben robben will.
Aus diesen Gründen wird klar, warum sich bei uns niemand gern einen „Dilettanten“ schimpfen lassen möchte; und eben darauf gründet auch die Beliebtheit des Dilettantismusvorwurfs als Negativetikett für allfällige Konkurrenten in der Ellbogengesellschaft. Wobei es unter Literaten, Künstlern und Philosophen ohnehin schon immer zu den Umgangsformen gehörte, sich gegenseitig des Dilettantismus zu zeihen. Ist auch verständlich, da es gerade im Kulturbereich an der Spitze der Nahrungskette ziemlich eng ist, so dass nur der entscheidende Distinktionsgewinn für mehr als trocken Brot sorgt. Zudem hängt die Schöpfungshöhe bei intellektuell Kreativen direkt proportional mit dem Solipsismus-Grad ihrer Weltinterpretation zusammen, in der nur sie des Meistertitels würdig sind. Das brachte Sartre schön auf den Punkt, als er meinte: „Wenn zwei Philosophen einander im Treppenhaus begegnen, sollten sie am besten nur Guten Morgen! zueinander sagen.“
Ein weiser Rat, denn gerade die Philosophen schenken sich im Dilettanten-Bashing nichts und wissen damit ihre Gefolgschaft zu erheitern, kaum einer aber so herrlich aufgekratzt wie Schopenhauer:

„Hegel, von oben herunter zum großen Philosophen gestempelt, ein platter, geistloser, ekelhaft-widerlicher, unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, welche von seinen feilen Anhängern als unsterbliche Weisheit ausposaunt und von Dummköpfen richtig dafür genommen wurden, wodurch ein so völliger Chorus der Bewunderung entstand, wie man ihn nie zuvor vernommen hatte. Die einem solchen Menschen gewaltsam verschaffte, ausgebreitete geistige Wirksamkeit hat den intellektuellen Verderb einer ganzen gelehrten Generation zur Folge gehabt.“
Arthur Schopenhauer

Und seinem Philosophen-Kollegen Leonard Nelson war gleich die ganze eigene Zunft suspekt, denn „eine arbeitsscheue Philosophie setzt an die Stelle der Argumentation unreflektierte Intuition, Evidenz, ‚Wesensschau‘ und ‚Schöpfung‘, letztlich mit dem Resultat wissenschaftlichen und künstlerischen Dilettantismus.“

So schnurrig das Alles auch klingen mag, so gefährlich wird der Dilettantismus aber als Grundlage der Pseudo-Wissenschaften, denen zu viele Leute nicht nur ihr Geld, sondern vielfach auch ihre psychische und körperliche Gesundheit hinterher werfen. Weil im ’normalen Leben‘ der Dilettant sich aber gut zu tarnen weiß, indem er von dem noch geringeren Wissen und der Gutgläubigkeit seiner ‚Opfer‘ profitiert, wird er oft nicht gleich als solcher erkannt und kann vor seiner Entlarvung häufig noch schlagzeilenfette und geldwerte Erfolge einheimsen. Das zeigt sich nicht nur bei esoterischen Scharlatanen, sondern auch an etlichen Beispielen aus der jüngeren politischen Geschichte, ebenso bei unzähligen Symposien, Seminaren, Juryverpreisungen und dergleichen, bei denen der Dilettant die anfänglich oft kritiklose Kollegen- und Publikumsakzeptanz nicht selten nur seinem Rang & Namen oder seiner extrovertierten rhetorischen Positionierung verdankt.  Hinzu kommt ein inhaltlicher Grund für seinen Erfolg, den schon Nietzsche benannte: „Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.“ (aus Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band,  Nr. 578)

Gerade erschien drüben bei den ScienceBlogs der zu diesem Thema passende Beitrag  „Warum alle sich für toll halten“, in dem Florian Aigner die naheliegende Frage stellt „Wie ist es dann überhaupt möglich, inkompetenten Personen die eigene Inkompetenz klar zu machen?“ und darauf auch gleich als Antwort den Danning-Kruger-Effekt parat hat, nachdem man die Kompetenz erhöhen muss, um die Selbsteinschätzung näher an die Realität zu bringen. Ein Plädoyer für mehr Bildung also, dem ich mich gern anschließe, zumal die Entscheidungsprozesse in unserer Gesellschaft künftig wohl mehr und mehr an die ‚Schwarmintelligenz‘ gekoppelt werden. Allerdings sollte die Hoffnung, dem Dilettantismus auf diese Weise irgendwann den Garaus zu machen, nicht zu hoch gehängt werden. Denn dagegen steht die empirisch gut belegte Kompetenzstufen-Theorie des amerikanischen Neurologen und Musikers Daniel Levitin, derzufolge für das Erreichen von Meisterschaft auf einem (beliebigen) Gebiet mindestens 10.000 Stunden intensiver disziplinierter Arbeit erforderlich sind. Jetzt können Sie, lieber Leser, sich ja selber mal ausrechnen, in wie vielen Bereichen Sie im Lauf ihres bisherigen Lebens das Dilettantenstadium schon überwunden haben.

Und genau da liegt eben auch die Crux hinsichtlich der Teilhabe und vor allem der Leadership in öffentlichen politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Diskursen: einerseits genügend Fachkompetenz zu entwickeln und gleichzeitig Wissens-Generalist zu sein, der über Einzelbereiche hinaus Zusammenhänge erkennen kann und so Entscheidungsprozesse in ein ‚holistisches‘ Konzept einbettet. Das wäre idealerweise, wenn einer es denn könnte, nicht nur Legitimation, sondern auch die Kür etwa für einen Bundespräsidenten (wahlweise: öffentlich auftretenden Intellektuellen, Chef-Banker, Weltwirtschaftsökonom etc.).

Tatsächlich aber kann es in der Real-Politik nur Dilettantismus geben, weil die Komplexität und Emergenz der ineinander verzahnten Kultur-, Sozial- und Wirtschaftssysteme zu groß sind, um nachvollziehbare Kausalitäten benennen und „wahre“ Aussagen darüber machen zu können; hier geht’s nur mit Abwägen und mehr oder weniger dilettantischem Vorantasten. Ein guter Politiker ist also einer, der um seinen Dilettantismus weiß. Genauso wie der gute Wissenschaftler sich auch dadurch auszeichnet, dass er sich seines Wenig-Wissens bewusst ist; und die Künstler & Denker in ihrem Werk die Transzendenz des Horizonts im Blick behalten…

Und a bisserl was geht ja immer, wenn wir alle, liebe Mit-Dilettanten der Künste, der Wissenschaften und des Humors, uns an die Einsicht des klugen Lichtenberg halten: „Je mehr man von einer Sache versteht, desto feinere Verhältnisse verlangt man.“

Wer nun Lust auf noch mehr Dilettantismus hat, dem sei die Nachstudio-Sendung vom 19.2.2012 mit dem Titel „Avanti Dilettanti!“ empfohlen – dieses Motto klang seinerzeit recht passend, weil BP Wulff da grad am Gehen war ;-)

Am Ende der Sendung war sich das Quartett vorm Kamin übrigens ebenfalls einig, dass die bei uns praktizierte Form des Abfüll-Wissens eine geistige Übersicht über die Welt eher verhindert als fördert, und dass Bildung in unserer Gesellschaft – weil nicht per se auf monetarisierbare Ergebnisse ausgerichtet – praktisch als wertlos angesehen wird. Na, wer hätte das gedacht…

wf


Natürlich hatten die Nachtstudio-Gesprächsgäste auch ein paar aktuelle Bücher zum Thema verfasst (die ich noch nicht gelesen hab, deshalb sind ‚undilettantische‘ Rezensionen dazu als Gastbeiträge hier herzlich erwünscht):

Zur Typologie der Dilettanten – PDF

2 Gedanken zu „Zur Typologie der Dilettanten“

  1. Pingback: Philosophische Schnipsel » Wenn du denkst, du denkst…

  2. Danke für den Tipp! Hat zwar etwas gedauert, aber habe nun ausgerechnet, in wie vielen Bereichen ich im Laufe meines bisherigen Lebens das Dilettantenstadium schon überwunden haben müsste, da mindestens 10.000 Stunden intensiver disziplinierter Arbeit in diese Gebiete eingebracht. Im Resümee komme ich zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass ich dem Satz „Esel bleibt Esel, auch wenn er eine Melone frisst“ zuzustimmen habe.

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