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Völkermord ist schlimmer als Krieg


Der Soziologe und Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen untersucht in seiner Film- und Buchdokumentation „Schlimmer als Krieg“ politische und massenpsychologische Ursachen und Zusammenhänge von organisierten Genoziden

Einer der grausigsten und unvorstellbarsten Völkermorde ereignete sich 1994 in Ruanda, als in nur knapp 100 Tagen Angehörige der Hutu-Mehrheit fast eine Million Männer, Frauen und Kinder der Tutsi-Minderheit abschlachteten. Das ist wörtlich zu verstehen, da noch vielen Verwundeten, die sich davonschleppen wollten, die Glieder eins nach dem anderen mit Macheten abgehackt wurden bis sie verblutet waren.
Obwohl damals vor Ort Friedenstruppen der Vereinten Nationen stationiert waren, erfolgte keine humanitäre Intervention – stattdessen diplomatisches Abwiegeln, bewusste Fehlinformation der Weltöffentlichkeit und trotz der Kenntnis vom Ausmaß der Gewalttaten vermieden es die westlichen Regierungen der USA, Frankreichs und Englands bewusst, von einem Genozid zu sprechen. Denn hätte man diese organisierten Greueltaten als solchen bezeichnet, wäre die internationale Gemeinschaft gemäß der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zwingend zum Eingreifen verpflichtet gewesen. Stattdessen sprachen Vertreter der US-Regierung von „Chaos“ oder von möglichen „genozidalen Akten“.

goldhagen - völkermordeDie Zahl der Opfer solcher – immer politisch motivierten und gewollten – brutalen Mordkampagnen übersteigt mit mehr als 100 Millionen Toten die Anzahl aller „regulären“ Kriegsgefallenen in den vergangenen hundert Jahren und immer wieder stand und steht die Weltöffentlichkeit bis in unsere Tage fassungs- und hilflos vor dem Wahnsinn eines Teils ihrer eigenen Spezies: Vor und während des Ersten Weltkriegs ermordete das türkische Militär mehr als eine Million Armenier und Suryoye, Hitlers Schergen brachten sechs Millionen Juden während des Holocaust um, in den 1930er und 40er Jahren fielen dem japanischen Großmachtswahn ebenso etliche Millionen Asiaten zum Opfer wie dem stalinistischen Terror in der Sowjetunion. Die „Massensäuberungen“ der Roten Khmer in Kambodscha forderten zwei Millionen,  Saddam Husseins Giftgasangriffe gegen seine kurdischen Landsleute kosteten ebenso wie die Killerkommandos der serbischen Faschisten in Bosnien Tausende das Leben,  fast eine halbe Million Tote werden bisher im aktuellen Darfur-Konflikt gezählt. Und nur wenigen bekannt ist bei uns die Ermordung von 200.000 Mayanachkommen von 1982-84 in Guatemala durch die Militärs des Diktators Efrain Rí­os Montt (der dort bis heute als Abgeordneter im Parlament sitzt).

Mit einigen dieser Völkermorde der jüngeren Geschichte setzt sich der jüdische Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen, der mit seinem früheren Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ schon vor einem Jahrzehnt eine sehr kontroverse Diskussion ausgelöst hatte, nun in seinem neuen Film und gleichnamigem Buch „Schlimmer als Krieg“  auseinander. Goldhagen frägt, wie es zu solchen Verbrechen kommen kann und blickt auf Ursprünge und Verläufe: Was bringt Menschen dazu, ihre Nachbarn – Männer, Frauen und Kinder – zu töten? Wie beginnt das Morden? Und wie hört es wieder auf? Und warum sieht die Weltgemeinschaft meist viel zu lang tatenlos zu, wenn das Morden beginnt?

Während seiner Recherchen reiste Goldhagen mit einem Filmteam um die Welt und sprach mit Tätern und überlebenden Opfern, mit Ermittlern, Diplomaten, Polizisten und Politikern.  Dabei zeigt er auf, dass Völkermorde nicht etwa Ausbrüche blindwütiger oder unkontrollierter Massenhysterie sind, sondern immer das Ergebnis bewusster Entscheidungen einer totalitären politischen Führung.  Diese schürt mittels medialer Agitation ein Klima von Vorurteilen, Rassismus und Feindbildern in der Bevölkerung, wobei den Gegnern das Recht auf Mensch-Sein abgesprochen wird, weil sie eine Bedrohung darstellten. Historische, soziale und ökonomische Tatsachen werden dabei geleugnet oder so verdreht, dass schließlich ganz „normale“ Bürger in ein Netz aus Hasspropaganda verstrickt sind und zu willentlichen Mitagierenden der Tötungsmaschinerie werden.

Nach Goldhagens Überzeugung fallen unter „Völkermord“ nicht nur die zählbaren Todesopfer, sondern alle gezielten Maßnahmen zur Eliminierung einer Bevölkerungsgruppe: Entrechtung und Arbeitsverbote, Massenvergewaltigungen und Vertreibung.  Und weil sich die Blauhelmpolitik der UNO demgegenüber oft als Blauäugigkeitsdiplomatie, als zu abwiegelnd, schwerfällig und damit hilflos zeigte, fordert Goldhagen eine Null-Toleranz-Linie der demokratischen Staaten gegenüber jeder Form von eliminatorischer Politik und dass mit Hilfe einer ständig eingreifbereiten „Weltpolizei“ die Verantwortlichen schnell und entschlossen aus ihren Machtpositionen entfernt werden können – auch mit Gewalt.

Goldhagens Anliegen geht so auch diesmal über den wissenschaftlich-dokumentarischen Anspruch weit hinaus und ist ein provozierendes Plädoyer für mehr weltgemeinschaftliche humanitäre Verantwortung.
Die ARD zeigte den Film kürzlich als deutsche Erstausstrahlung – allerdings erst nach Mitternacht, vielleicht wegen der teilweise schockierenden Szenen. Immerhin brachte tags darauf noch 3sat-Kulturzeit einen Beitrag dazu und hält weiteres (auch unterrichtstaugliches) Material zum Thema „Völkermord“ auf der Website bereit.

Daniel Jonah Goldhagen:  „Schlimmer als Krieg“
Siedler Verlag, 688 Seiten
ISBN-13:978-3886806980

wf

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