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Wir irren stündlich (in idiosynkratischen Kontingenzen)

Wer seine Gesinnung öffentlich zur Schau trägt, hat schnell ein paar Spötter im Rücken. Dabei will er doch nur zeigen, wie sehr er sich einer Idee verbunden fühlt, etwa wenn der blaßgesichtige Hänfling im California-Surfing-T-Shirt zur Grillparty kommt oder der beschlipste Banker in der Mittagspause im Dritte-Welt-Café gegenüber den Che Guevara neckisch unter dem lässig geöffneten Jacket hervorblinzeln lässt.

Die Symbole eines erträumten oder versäumten Lebens sind freilich auch ergiebige Geldquellen für diverse Textil-Siebdrucker und Logo-Rechteinhaber und vor dem Diskurshintergrund über die Unverkäuflichkeit immateriell-digitaler Werte in der Kostenlos-Mentalität des Internet erschien es mir abseits aller moralischer Erwägungen wohlfeil, auch mich selbst mit etwas derartig Handfestem als kleine automatisierte Zusatzeinnahme zur Sicherung meines materiellen Lebensunterhalts zu entlohnen ;-)

t-shirt-irren

Nun lässt sich aber mein Konterfei wegen des mangelnden Boulevard-Profils genau so wenig vermarkten wie meine doch sehr selektiven dummen Sprüche, so dass etwas Allgemeingültiges, auch dem letzten Trottel Verständliches her musste: Ein echter Lichtenberg, der sich im lang zurückliegenden Tode nicht mehr gegen seine Verwurstung wehren kann, durfte es da schon sein!

Gedacht – getan, also ab zum Praxis-Test. Und weil in Klamottendingen  bekanntlich immer die Frauen das Einkaufs-Sagen haben,  war zunächst die Kassiererin in meinem Supermarkt fällig.  Nach einem kurzen Blick auf mein T-Shirt sah sie sich verstohlen um, ob nicht etwa der Filialleiter in der Nähe stünde und raunte mir dann verschwörerisch zu: „So gehts mir fast minütlich.“

Abends in der Stammkneipe zog mich die Wirtin beiseite und jammerte: „Ja mei, des hab I dem Typ da neulich wirklich ned angsehn, der hat so normal gwirkt, dass I eam no a Bier geben hab. Aber dass der mir dann gleich die ganze Theke vollspeibt, na woaßt!“

Und als ich nach Kneipenschluss ihre süße Bedienung,  von mir immer reichlich mit Trinkgeld bedacht,  noch nach Hause gefahren hatte, zog die mir anstelle eines belanglosen Danke Schön! einfach das T-Shirt über den Kopf und schnurrte: „Na, du hast dich nicht geirrt …“

Nach diesem durchaus zufriedenstellenden Testlauf blieb noch die philosophische Aufbereitung des Sprücherls, sozusagen als Beipackzettel für etwaige intellektuell-reflektierende Käufer, und dazu verweise ich immer gern auf Richard Rorty, der die menschlichen Irrungen im Denken, Reden und Handeln in den idiosynkratischen Kontingenzen der persönlichen Vergangenheit begründet sieht, aus denen sich das „Ich“ des Menschen ständig neu und flüchtig konstituiert. Oder aber auf die sinngleiche Annahme des klugen Gautama, der die irrige Vorstellung von einem stabilen „Selbst“ als die Ursache vieler Denkübel erkannte – eine nicht-dauernde Manifestation karmischer Wirkungen aus dem Anatman.

Lichtenberg selber, eines Tages von seinen Studenten nach dem wahren Sinn seines oft benutzten Sprüchleins gefragt,  deutete durch das offene Fenster auf die soeben schlagende Turmuhr der gegenüberliegenden Göttinger Universitätskirche St. Nikolei und spottete: „Ja hört ihr es denn nicht?“

So darf sich denn jeder Träger dieses identitätsstiftenden T-Shirts in dem großartig-größenwahnsinnigen Gefühl suhlen, ein unglaublicher Provocateur und Teil einer wissend-verschworenen Gemeinschaft zu sein, deren wahre Gesinnung der Käufer-von-der-Stange nicht versteht ;-)

wf


Her mit dem T-Shirt!


Im Übrigen erschien zur Experimentellen Philosophie am 6.7.09 ein amüsant-informativer Artikel von Malte Dahlgrün in der Süddeutschen Zeitung. Nun ist der Original-Artikel aber nicht frei, sondern nur kostenpflichtig im Internet zugänglich – allerdings kann der Beitrag als Scan kostenlos auf dem amerikanischen Philo-Blog „Experimental Philosophy“ gelesen werden.
Wer O-Ton bevorzugt, möge die kurze Einführung ins Thema von Joshua Knobe (Princeton University), einem der „Gründerväter“ der X-Phi, lesen:  What Is Experimental Philosophy? (PDF, englisch).

2 Gedanken zu „Wir irren stündlich (in idiosynkratischen Kontingenzen)“

  1. kein Wunder, dass Banker gern Guevara-T-Shirts tragen. war der Mann doch als Mitglied der Revolutionsregierung mal Chef der kubanischen Nationalbank ;-)

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