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Fähnleinträger der Gegenaufklärung

Ethik

Der theologisch angefütterte Kulturjournalist und Buchautor Alexander Kissler („Der deutsche Papst“) wäre hier eigentlich keiner Erwähnung wert, hätte er sich nicht über seine restaurativen Kreise hinaus mittlerweile öffentliche Aufmerksamkeit in TV-Diskussionen und auch des öfteren als Feuilletonist in der von mir sonst so geschätzten „Süddeutschen Zeitung“ erschlichen verschafft..
Tritt er dort meistens mit angezogener Handbremse auf, so bot ihm nun das Katholische Magazin „Die Tagespost“ ein Forum für einen Eigenwerbe-Essay mit den Grundthesen seines neu erschienenen Buchs „Der aufgeklärte Gott“, in dem Kissler den Naturalismus in der Philosophie als Selbstkasteiung des öffentlichen Denkens und als vermeintliche Leitidee der Kultur attackiert.

Das Buch hab ich nicht gelesen, aber die im Artikel vertretenen Thesen geben doch Anlass zu der Besorgnis, dass er als einer der letzten Verfechter des Substanzdualismus  mit dem Fähnlein der Gegenaufklärung noch ein paar Gut- und Gernegläubige zusammenwinken könnte.
Allerdings versucht er das ohne logisch-philosophische Argumentation und nur auf Grund populistischer Negation der sich abzeichnenden Vernetzung von Philosophie und Naturwissenschaft. So stellt er etwa fest, dass die zeitgenössische Philosophie an programmatischer Stelle strikt naturalistisch und antireligiös, christentumskritisch und empiriebegeistert argumentiere. Die „wissenschaftliche Weltauffassung“ sei eine Weltauffassung rein nach den Ansprüchen der experimentierenden Naturwissenschaft und insofern ein reduktionistisches Verlangen.  Auf diesem Hintergrund könne man einen stabilen „Gegensatz zum Glauben“ postulieren und sich selbst in dessen Gegenüber, im immer vorläufigen Wissen statt im Bereich „letzter Wahrheiten“ positionieren.
Jawohl, Herr Kissler, so sollte es in der Philosophie ja auch zugehen: keine letzten, auf Glauben gegründeten Wahrheiten, sondern Suche nach einer Ethik aus sich weiterentwickelnden Vernunftgründen – falsch ist allerdings Kisslers Annahme, die Gegenwartsphilosophie sei dem „dernier crie“ eines physikalischen Reduktionismus verfallen. Im Gegenteil bewegt sich der Diskurs aufgrund der Einsicht in unser Wenig-Wissen auf den (vorläufigen) Annahmen von Kompatibilität und Emergenz von Gehirn & Geist – der Kissler’sche Substanzdualismus dagegen befriedigt, eben populistisch!, die alltagspsychologischen Ich-Vorstellungen und somit die Sehnsucht nach der Unangestrengtheit von ‚Glauben‘.

EthikMan möchte meinen, an Kissler sei der aktuelle Diskurs (etwa die Scobel-Diskussion Nida-Rümelin – Wolf Singer, die undogmatischen Interpretationsansätze von Michael Pauen, Eric Kandel, MSS,  Spitzer, Roth, Mainzer und anderen) ohne Kenntnisnahme vorbeigezogen. Sonst könnte er in seinem Essays auch nicht mit solcher Vehemenz gegen die neue Reclam-Kollegreihe „Praktische Philosophie“  wettern, der er in toto eine „selektive, abermals reduktionistische Optik“ unterstellt. Eine aus einem evolutionären, also biologisch bedingten Humanismus ableitbare Ethik ist für Kissler unvorstellbar, da sich für ihn die Menschenwürde ausschließlich aus dem Schöpfungsgedanken ergibt.
(Band 1 der „Praktischen Philosophie“ habe ich grad gelesen – meine beste Empfehlung!)

Zusammenfassend warnt Kissler: „Ein Aufstieg des Naturalismus zum leitenden philosophischen Paradigma hätte dramatische Folgen.“ Selbst wenn das der Fall wäre, könnte man als keineswegs dramatische, sondern wünschenwerte Folge den weiteren Niedergang irrationaler Glaubenssysteme erwarten.

Auf eine Komplett-Rezension von Alexander Kisslers Buch soll hier verzichtet werden, da es ohnehin schon von prominenter Seite Haue bekam;  so etwa hält Rezensent Rudolf Walther von der „taz“ Kissler zwar nicht für einen „schäumenden Fanatiker“, wohl aber für einen „stolz kokettierenden Brachialkatholiken vom Schlage des Aufklärungsgegners Louis de Bonald“. Das Buch scheitert seines Erachtens vor allem deshalb, weil Kissler sich nicht die Mühe mache, zu unterscheiden, was Vernunft in der Antike, im Mittelalter, in der Zeit der Aufklärung und im nachmetaphysischen Zeitalter bedeutet. Kisslers Meinung, Vernunft sei heute selbst ein religiöses Dogma ist für den Rezensenten ein „Pauschalurteil“. Störend empfindet er auch die Geringschätzung, mit der Kissler mit Aufklärern wie Lessing, Diderot oder Kant ins Gericht geht. Demgegenüber hält er fest: Kissler bewege sich ganz auf der „Geisterbahn von Ratzingers Regensburger Rede“.
Auch Christian Schüle („Die Zeit“) stört wohl der furiose „Anti-Dawkins“-Habitus, mit dem er den Autor Kissler in seinem Buch über den „Vernunftterror“ auftreten sieht, der die „Vernunft vor sich selbst“ geschützt sehen will und dabei mitunter sehr nah an Papst Benedikt XVI. entlang argumentiert. Und zwar vor allem deshalb, weil es hier für den Geschmack des Rezensenten „viel Schmalz auf einer dünnen Scheibe Brot“ zu lesen gibt. (via „Perlentaucher“)

Nach der Lektüre des Kissler-Essays könnt ihr euch bei Interesse auch an der  zugehörigen Diskussion bei den „Brights“ beteiligen…

wf

Ein Gedanke zu „Fähnleinträger der Gegenaufklärung“

  1. Was ist „die Vernunft“ und was ist vernünftig zu nennen? Allzu menschlich scheint mir jedenfalls zu sein, daß „der Glaube“ – in religiöser oder auch „vernünftiger“ Form – dem je rational Einholbaren und empirisch Beweisbaren immer irgendwie vorauseilt – und dabei auch Gefahr läuft, sich zu verirren. Aber ohne diese „glaubensbedingte Vorhut“ wäre die menschliche Ratio ziemlich ideenlos und könnte dogmatisch veröden. Freilich gilt auch umgekehrt, daß der Glaube in seiner je eigenen Ausformung sich nicht loslösen darf von der vernunftgeleiteten Einhegung, wenn er nicht irrational und bisweilen auch fanatisch werden will. Wenn Kant von den „regulativen Ideen“ spricht, mag damit etwas Derartiges angedeutet sein, ohne allerdings den Rahmen des Aufklärungsdenkens des 18. Jahrhunderts zu überschreiten.

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