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Die Unruhe der Welt

Francisco de Goya

Ralf Konersmann über die Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen

Seid ihr auch immer unterwegs, getrieben von dieser inneren Unruhe, etwas zu erreichen, euch zu verändern, die Dinge verbessern zu wollen, eine mögliche Welt mehr zu schätzen als die bestehende? Ist diese Inquietas eine anthropologische Konstante, die den Menschen qua natura zum „Unruhestifter“ macht, wie Helmuth Plessner vermutete? Ist sie vielleicht „der Grund der Gründe“ wie für Gottfried Wilhelm Leibniz? Oder hat die kulturelle Evolution die menschliche Hingabe an den ständigen Unruhemodus zu einer „Passion“ des Fortschreiten-müssens in der westlichen Welt entwickelt, zu einem „abendländischen Aktivitätskommando“, wie Thomas Mann einmal bemerkte?

Der Kieler Kulturphilosoph Ralf Konersmann, Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturphilosophie, unternimmt in seinem neuen Buch eine weit ausholende genealogische Untersuchung, wie „Die Unruhe der Welt“ überhaupt zu ihrem heutigen Status kam: als stofflich nicht fassbares Ding, das weder bloß Subjekt noch bloß Objekt, weder nur Innen oder Aussen, weder Mittel noch Zweck ist, sondern jederzeit beides zugleich. Dazu taucht er tief ein in die Mythen, Erzählungen und Deutungen aus Literatur, Philosophie und Kunst und zeigt, wie sich kulturelle Konventionen auch durch die „Unwiderstehlichkeit der Unruhe“ entwickeln und durchsetzen. So wird die Unruhe als permanenter Prozess zur eigentlichen Triebkraft der abendländischen Kultur: „Dass die Welt etwas ist, das es zu verändern gilt, war und ist der fraktionenübergreifende Konsens europäischer Intellektualität. Der erhabenste Ruhmestitel, den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter.“

Eine der Abb. im Buch: Francisco de Goya "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer"

Eine der Abb. im Buch:
Francisco de Goya „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“

Ideengeschichtlich kam die Unruhe zunächst mal als Strafe über das Menschengeschlecht: mit dem biblischen Mythos der Vertreibung des Brudermörders Kain („Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein“) in das Land Nod (hebräisch für „Unruhe“). Das ist der Ausgangspunkt für Konersmanns mäandernden Streifzug durch die Kulturgeschichte der Unruhe und die Vielfalt der damit verbundenen Phänomene. Er zeigt, wie ihre Präsenz abhängig ist von der Art, wie wir die Wirklichkeit und wie wir uns selbst als Teil dieser Wirklichkeit verstehen wollen. Dabei ist der Mensch keineswegs gezwungen, das Joch des biblischen Fluchs als unabänderliche Bedingtheit seines Lebens zu akzeptieren oder den Aggregatszustand der Unruhe wie eine Naturgewalt hinzunehmen.
Schon der Fassbewohner Diogenes parodierte auf dem Marktplatz von Korinth die obsessive Gschaftlhuberei seiner Zeitgenossen durch scheinbar sinnloses Hin- und Herrollen seiner Tonne, und gab darauf angesprochen zur Antwort: „Ich wälze mein Fass, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich sei unter so vielen Tätigen der einzige Nichtstuer.“ Ist es hier noch der randständige Narr, der sich dem normativen Unruhe-Konformismus entzieht, wird diese Verweigerung bei den Stoikern programmatisch – die „Seelenruhe“ wird zum moralphilosophischen Anliegen; und in der Tradition des christlichen Glaubens gilt die Kontemplation sogar als Basis zum Erreichen der Nähe Gottes, mithin der Erkenntnis.
Erst ab der Renaissance können Wissenschaftler, Künstler und Denker, etwa Francis Bacon in seinem „Novum Organum“, der Unruhe wieder positive Qualität abgewinnen, als Schubkraft für notwendige Veränderungen, um nach ‚getaner Arbeit‘ wieder paradiesische Zustände zu erreichen. Seither befördert der Elan des Unruhemodus ein zwiespältiges Daseinsgefühl mit dem Versprechen auf eine bessere Zukunft einerseits und einer permanenten Überforderung andererseits.

Wie diese Unruhe-Ambivalenz als Zivilisationsmoment die westliche Welt in den fünf Jahrhunderten der „Neuzeit“ prägte, rekonstruiert Konersmann von Montaigne und Pascal über Leibniz, Schiller, Hegel und Marx („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern“) bis zu Brecht, Benjamin, Blumenberg und etlichen anderen Denkern, wobei die vielen motivischen Querbezüge in einem 80-seitigen Anmerkungsapperat erhellt werden, ergänzt durch ein ausführliches „Vokabular der Unruhe“.

Ralf Konersmann - Die Unruhe der WeltWer sich allerdings mit diesem stilistisch elegant geschriebenen Buch einen Lebenshilfe-Entschleunigungsratgeber erwartet (von denen es ja schon Regalkilometer gibt), wird eines Anderen belehrt: die zeitgenössischen Unruhe-Quälgeister des Massenverkehrs, des Burnout, des kommunikativen Dauerfeuers und dergleichen werden nicht exorziert und auch Tranquilizer für den Biedersinn derer, die bloß um ihre Ungestörtheit besorgt sind, hat Konersmann nicht anzubieten – stattdessen empfiehlt er ein kluges Zusammenspiel von Ruhe und Unruhe nach jener Zeile Hölderlins: „So eile denn zufrieden!“

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