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Kleine Phänomenologie des Sommerlochs

Ach, wie zuverlässig gemütlich war doch früher das Sommerloch als Hort der informationellen Langeweile, wenn in den Medien olle Kamellen aus’m Archiv neu augetakelt und ein paar Promi-Affären fingiert wurden, wenn die Wiederholungsschleifen des „Tatort“ zum Biergartenbesuch drängten, wenn die eine oder andere Ente im Sommerloch dümpelte und die parlamentarischen Hinterbänkler am Rand hockten und Stopfmaterial anboten, etwa von der Qualität einer „Hygienekompetenzrichtlinie für holländische Urlauber an deutschen Autobahnraststätten“. Und die bairischen Medien ihren Vorteil genossen, mit der allsommerlichen Bilderserie „Wir warten aufs Oktoberfest“ lochhaftig punkten zu können.
Und dieses Jahr? Man kann das Sommerloch kaum noch sehen, so sehr wird es gerade überdeckt vom Setting unausweichlicher Themen: hier das Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA, daneben die weltweite Total-Überwachung inclusive des Realo-Krimis „Mr. Snowden auf der Flucht“, dort die politischen und humanitären Katastrophen der sich verheddernden Arabellion in Syrien und Ägypten und da die Massenarbeitslosigkeit der Jugendlichen in den Ländern, in die wir eigentlich aus Angst vor dem Sommerloch in Urlaub fliehen wollten. Da traun sich nun viele vor lauter Fremd-Schämen über Iron Merkels protestantische Arbeitsethik und Austeritätspolitik gar nicht mehr hin und vergrössern so noch die Sommerlöcher in der dortigen Tourismusökonomie.
Zudem sorgen in diesen Wochen die Endspurtsportler der anstehenden Bundestagswahl für allwöchentlich neue Erheiterung, in den Flutgebieten sorgt das Schlammschippen weiter für Trostlosigkeit und im Feuilleton erklärt uns der junge Philosophieprofessor Markus Gabriel warum es die Welt gar nicht gibt, also irgendwie auch nur ein Loch ist.

Für ein richtig gemütliches Sommerloch ist das alles einfach zuviel. Schließlich braucht die mediensüchtige Seele des homo informaticus auch mal ne Auszeit zur Regeneration, das Sommerloch als meditatives Retreat für eine Rückgewinnung der Deutungshoheit über Wichtig/Unwichtig, sofern man ins Sommerloch nicht hineinfällt und stattdessen achtsam-entspannt balanciert an seinem Rand, der ja noch zum Etwas gehört, aber beständig in das Nichts sieht, eine Grenzwache der Materie und der Information.

sommerloch

Sommerloch zum Ausschneiden

 Das kreative Potential des Sommerlochs entdeckten schon die alten Ägypter, denn schriftlich überliefert ist der Begriff erstmals auf einem ägyptischen Papyrus aus dem Jahr 2593 v. Chr., als der Steinetransport auf dem Nil zum Bau der Cheops-Pyramide wegen einer sommerlichen Flaute unterbrochen werden musste. Dieses Windloch vertrieb damals als Gesprächsstoff nicht nur ein wenig die Langeweile in den Bierschänken der halbfertigen Pyramide, sondern sorgte auch für genügend Muße, die aufwändige Kunst der Mumifizierung weiter zu entwickeln.

Ab dem Beginn der Neuzeit wurde die Untersuchung des Sommerlochs von namhaften Wissenschaftlern professionalisiert und allerlei Theorien zu Herkunft und Funktion verschiedener Sommerlöcher aufgestellt. Etwa von dem holländischen Astronomen Christiaan Huygens, der schon im 17. Jahrhundert das Sommerloch als eine Art Äther, als allgegenwärtiges Medium der Belanglosigkeit beschrieb; später behauptete Albert Einstein, ein Sommerloch würde mit zunehmender Geschwindigkeit auch an Masse gewinnen und Stephen Hawking meinte, die Sommerlöcher im Zentrum einer jeden Galaxie verschluckten alles, sogar den Geist, und seien somit für allen Schwachsinn des Universums verantwortlich.

Nun ist das Sommerloch allerdings nur ein Spezialfall des Lochs-an-sich und deshalb wollen wir uns zum Schluss und zur Erkenntnis des Allgemeingültigen wieder mal die kategorische Grundlegung des Themas durch den Meisterdenker des Löchrigen, Herrn Kurt Tucholsky alias Kaspar Hauser, vergegenwärtigen, wie er sie in der Zeitschrift «Die Weltbühne» veröffentlichte: «Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist. Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut…»

Zur soziologischen Psychologie der Löcher

„Daß die wichtigsten Dinge durch Röhren gethan werden. Beweise: erstlich die Zeugungsglieder, die Schreibfeder und unser Schießgewehr.“ (Lichtenberg)

Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.

Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden. Loch ist immer gut.

Wenn der Mensch „ºLoch“¹ hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels.

Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finstern, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat, sie werden hineingesteckt, und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch grade aus diesem gekommen? Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.

Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aberbeständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs … festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.

Das Loch ist statisch; Löcher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht.

Löcher, die sich vermählen, werden ein Eines, einer der sonderbarsten Vorgänge unter denen, die sich nicht denken lassen. Trenne die Scheidewand zwischen zwei Löchern: gehört dann der rechte Rand zum linken Loch? oder der linke zum rechten? oder jeder zu sich? oder beide zu beiden? Meine Sorgen möcht ich haben.

Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Drückt es sich seitwärts in die Materie? oder läuft es zu einem andern Loch, um ihm sein Leid zu klagen „“ wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines.

Wo ein Ding ist, kann kein andres sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein andres sein?

Und warum gibt es keine halben Löcher „“?

Manche Gegenstände werden durch ein einziges Löchlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun das ganze übrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein, eine Jungfrau und ein Luftballon.

Das Ding an sich muß noch gesucht werden; das Loch ist schon an sich. Wer mit einem Bein im Loch stäke und mit dem andern bei uns: der allein wäre wahrhaft weise. Doch soll dies noch keinem gelungen sein. Größenwahnsinnige behaupten, das Loch sei etwas Negatives. Das ist nicht richtig: der Mensch ist ein Nicht-Loch, und das Loch ist das Primäre. Lochen Sie nicht; das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt. Wenn Sie tot sind, werden Sie erst merken, was leben ist. Verzeihen Sie diesen Abschnitt; ich hatte nur zwischen dem vorigen Stück und dem nächsten ein Loch ausfüllen wollen.

Kaspar Hauser

Die Weltbühne, 17.03.1931, Nr. 11

wf

2 Gedanken zu „Kleine Phänomenologie des Sommerlochs“

  1. Es ist Natur der Worte, mit Begrifflichkeit behaftet zu sein, Gegensätze zu schaffen, und zu Grenzwertbetrachtungen zu nötigen. Kurt Tucholsky war ein Meister der Grenzwertbetrachtungen.
    Dort, wo diese unterbleiben, beginnt der blühende Blödsinn. So weiß zum Beispiel heutzutage der Generalist von immer mehr immer weniger, bis er von allem nichts weiß. Und der Experte weiß von immer weniger immer mehr, bis er von nichts alles weiß.

  2. Blumenberg hat ein anderes Wort für Loch: Höhlenausgang! Damit ist eine leicht verschobene Perspektive verbunden. Blumenberg will keine Löcher penetrieren: Er will im Gegenteil daraus heraus! Und wirklich, ich frag ja nur, wer will schon in irgendwelchen Löchern feststecken?

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