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Die Zukunft des Journalismus ist investigativ und vernetzt

Gay Talese

In vielen Medienhäusern wächst mittlerweile die Einsicht, dass die Zukunft des professionellen Journalismus nicht in der schnellen Information, der Sensationsheische oder boulevardesker Unterhaltung liegt – sowas kann das geschmeidige Netz mit seinen Millionen Augenzeugen und ehrgeizigen Schreib- und Foto-Amateuren flotter, lauter, bunter und billiger. Durch die sofortige, gleichzeitige und globale Verfügbarkeit aller „Nachrichten“ verlieren Presseagenturen, Tageszeitungen, Radios und Fernsehsender ihre Exclusivität und somit ihre Konsumentenbindung, wie das stetige weltweite Absinken der Auflagen und Einschaltquoten bereits seit einigen Jahren – vor allem in den USA – zeigt. Für die leicht und überall konsumierbaren Infohäppchen entwickelt der Markt gerade personalisierte News-Aggregatoren (wie das Flipboard), die automatisch unablässig das Web nach neuen Informationen crawlen und bald auf jeder technischen Plattform lauffähig sein werden.
Diese Anarchie der Informationsverbreitung ermöglicht einerseits einen anti-elitären, demokratischen Zugang zu Wissen, führt aber andererseits beim ‚User‘ durch den Verlust redaktioneller gate-keeper auch zur oberflächlichen Wahrnehmumg und Orientierungslosigkeit im Info-Overload. Die zunehmende Kontingenz an Einzelinformationen trifft bei den ‚Durschnittskonsumenten‘ auf das lebensweltliche Bedürfnis nach Komplexitätsreduzierung, befördert so die Ausbildung beliebiger ‚Stammtisch-Meinungen‘ und damit letztlich eine Banalisierung gesellschaftlicher Diskurse.

Deshalb ist der Journalismus der Zukunft nicht nur aus wirtschaftlich-technischen Gründen zu einem Umdenken gezwungen, sondern auch als ‚Vierte Gewalt‘ in einer demokratischen Gesellschaft gefordert, die komplexe Welt zu ‚erklären‘: durch gute Recherche und Sachkenntnis Zusammenhänge und Hintergründe glaubwürdig aufzuzeigen, diese mit argumentativer Gewichtung zu analysieren und zu interpretieren und daraus intelligent begründete Meinungen mit Mut zu vertreten, auch gegen den Mainstream – der Journalismus als Kontrollorgan der Macht, als gesellschaftliche Aufgabe.
Wem da zuviel Pathos mitschwingt, der vergegenwärtige sich bitte die Entwicklungen in autokratischen und diktatorischen Gesellschaften, deren erster Schritt zum ‚Erfolg‘ immer auf der Zensur oder dem Verbot aufklärerischer Worte und Bilder beruht.

Um diesem Anspruch gerecht zu werden und dadurch vielleicht sogar publizistische Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln, liebäugeln viele Redaktionen mit einem stärkeren Anteil des Investigativen Journalismus in ihrem Blatt; zumal der Mensch einen Informationszusammenhang mit emotionalem Gehalt eher aufnimmt, behält und in sich selber weiterdiskutiert als einen nur trocken-analytisch und kalt servierten. So kann eine entsprechend gut gemachte Reportage in einer Mischung aus reflektierender Distanz und persönlichem Eingebettet-Sein nicht nur informieren und für ein Thema nachhaltig sensibilisieren, sondern gleichzeitig eine Gefühlsbindung zum eigenen Medium herstellen.

Das erkannte schon in den frühen Sechziger Jahren der New York Times -Journalist Gay Talese, der mit seinen literarischen Reportagen in den USA den anfänglich als unjournalistisch geltenden Stil des New Journalism begründete  und damit einen Stein ins Rollen brachte. Vor Allem seine im Esquire erschienenen Portraits von Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra entfachten eine ‚Kulturrevolution des journalistischen Schreibens‘, eine ‚Literatur der Wirklichkeit‘, in der die Kunst des Beobachtens und realen Teilnehmens Voraussetzung für eine Überwindung der Grenzen zwischen Journalismus und Literatur war.
Dahinter stand (und steht) die konzeptionelle Idee, die fiktionale Strömung unter dem Strom der Wirklichkeit aufzuspüren und die Protagonisten in einer verdichteten Prosa mit freien Gedankenassoziationen lebendig werden zu lassen.

Gay Talese

Gay Talese

Taleses teilweise undercover recherchierte Buch-Bestseller wie „Honor Thy Father“ über eine Mafia-Familie oder sein Buch über die sexuelle Revolution in Amerika, „Thy Neighbor’s Wife“, gelten als Musterbeispiele für den New Journalism.
Den Begriff brachte aber erst Tom Wolfe 1973 ins Medienspiel, als er in der Anthologie The New Journalism in seinem Vorwort Eigenart und Bedeutung des neuen Stils definierte und dabei auf dessen kulturelle Wurzeln in der Literatur der Beat Generation der 50er-Jahre verwies. Der New Journalism hätte eine Lücke aufgetan, weil sich die Autoren der Hochliteratur zunehmend in unverständlicher Sprache auf rein formale Spielereien beschränkten und der traditionelle Journalismus andererseits unter der faden Objektivität der Fakten jedes Leben begrabe.
Folglich wandten sich die neuen Autoren inhaltlich Bereichen zu, die andere Journalisten vernachlässigten: etwa den neuen Subkulturen der Hippie- und Popmusik, der Drogen- und Rockerszene (z.B. aufsehenerregende Stories über die „Hells Angels“) und öffentlich bisher nicht wahrgenommen Facetten der Politik – in radikaler und subjektivistischer Perspektive: laut, schrill und antiautoritär.

Truman Capotes penibel recherchiertes Buch über die Morde an einer Farmerfamile, „In Cold Blood“ („Kaltblütig„), wurde 1966 zu einem Bestseller und löste einen regelrechten Medienhype aus; Norman Mailer, der vielleicht schärfste Kritiker der US-amerikanischen Gesellschaft, erhielt für seine Reportage über die amerikanische Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg „Heere aus der Nacht“ 1969 den Pulitzer-Preis, ebenso 1980 für „Gnadenlos“, einen Tatsachenroman über einen Mörder und dessen Hinrichtung.
Hunter S. Thompson, Ende der 1960er Jahre einer der ersten Autoren des Magazins Rolling Stone, toppte mit seinem von ihm selbst so genannten Gonzo-Journalismus die Radikalität aller mittlerweile auf den Zug aufgesprungenen Autoren durch seinen exzentrischen und ausschweifenden Lebens- wie Schreibstil, der den Erfolg des Rolling Stone rasant beschleunigte.

Egon Erwin Kisch

Egon Erwin Kisch

Manche Medienforscher wie Lutz Hachmeister verorten die Anfänge des Investigativen Journalismus allerdings schon Anfang des 20. Jahrhunderts in deutschen Vorläufern, etwa in den Reportagen von Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und Tucholsky, bevor diese 1933 von den Nazis Publikationsverbot erhielten.
(Dieser These mag ich nur bedingt zustimmen, da sich die soziokulturellen und politischen Umstände in der Weimarer Republik wesentlich von dem selbstgefälligen God-save-America der Sixties unterschieden und zudem die literarischen Stilmittel, etwa des Perspektivenwechsels und des ‚Street-Slang‘ im
New Journalism als ein „sich ausliefern, Teil der Situation zu sein“ verstanden wurden – gegenüber dem satirisch-anzüglichen Duktus p.e. bei Tucho.)

Mit dem Erhöhen des Wettbewerbsdrucks wurde der Investigative Journalismus bei den privaten Medienanbietern in den letzten Jahrzehnten allerdings kaum noch gepflegt – schließlich kostet das damit verbundene Reisen und oft jahrelange Recherche die Verleger viel Geld; oft erarbeiteten sich die „Freien“ ihre Recherchen erstmal auf eigene Rechnung ohne Garantie einer finanziell tragfähigen Verwertung. Günter Wallraff war da aufgrund der Popularität seiner frühen spektakulären Undercoveraktionen eine anständig bezahlte Ausnahme,  den meisten gings aber wie etwa Wolfgang Büscher, der sich seine Reportagen und Bücher wie „Berlin – Moskau“ in eigener Vorleistung erwanderte, obwohl er selbst im journalistischen Betrieb gut etabliert war.

Und schon lang vor der Forderung nach einem neuen Investigativen Journalismus in den ‚Holzmedien‘ wurde dieser im Internet in Form der engagierten, embedded Reportage wiederbelebt, auch über längere Zeiträume und mit investigativen Risiken – ob bei Al-Dschasira, der Politkowskaja (“ ) oder einigen journalistischen Formaten im Internet wie dem kritisch-investigativen Blog der kubanischen Autorin Yoani Sánchez. Oder, ums wieder in Erinnerung zu bringen, im  „Irrawaddy“, einer online- und print-Zeitung mit literarisch ansprechendem Magazinteil, die zwar von Exilanten in London herausgegeben wird, aber auch von Autoren aus Birmas Innenperspektive mit ‚verbotenen‘ Texten und Bildern gefüttert wird – etwa mit den aufrüttelnden Reportagen über das Leiden der Minderheiten und den Aufstand der buddhistischen Mönche vorletzten Sommer in Birma.
Nur eins von vielen Beispielen, an denen sich erkennen läßt, wie sich der New Journalism im Web weiter entwickelte, dabei aber durch die ständige Aktualisierungsmöglichkeit, die Interaktivität und Multimedialität zwangsläufig die Form änderte – zugunsten der Leser!
Aber auch der häufig geäußerte Vorwurf von möglicherweise unseriöser Subjektivität der Berichterstattung bestätigte sich dabei immer wieder mal. Denn natürlich gibt es im Web – wie damals für die ersten New Journalists – ein Qualitätsproblem bei vielen ‚ungebändigten‘ Autoren, die nicht einer redaktionellen Kontrolle unterliegen. Da werden Texte leicht mal zu einem solipsistischen Geschreibsel, gezeichnet vom Dämon eines Realität und Fiktion verwischenden Narzissmus, der im Vexierspiel als Agent Provocateur Kompensation für möglicherweise fehlende Akzeptanz im echten, sinnlich erfahrbaren Leben sucht „“ vor Allem bei Bloggern kann es ein selbstgefälliges Verharren in der Ironiefalle des ‚Alles-sagen-dürfen‘ werden, wenn kein ernsthafter Lektor mal die Hand auf die Tastatur legt.

Andererseits liegt eben darin auch der Reiz postmoderner Meinungsvielfalt, dass nicht nur scheinbar Objektives (ach! was wurde da schon immer gelogen…) , sondern auch interpretatorische Farbtupfer das Weltgeschehen verständlicher, be-greifbarer machen. Und je demokratischer und aufgeklärter unsere Kommunikationsgesellschaft durch die intrinsischen Kräfte der Informationsverbreitung wird, desto weniger wird sie sich inhaltlichen Müll andrehen lassen und auch von ‚unabhängigen‘ Autoren selbstreflexive journalistische Ethik und Sorgfalt erwarten – das wäre eine gute Arbeitsbasis für die zukünftigen New Journalists

Allerdings wird es aber keinen Sinn machen, die „gute alte Zeit“ des investigativen Journalismus á la Talese wieder auferstehen lassen zu wollen – auch das letzte Dorf am Hindukusch ist inzwischen mit der Welt vernetzt und kein Einzelkämpfer kann alle relevanten Daten bspw. zu Terroraktionen oder Geheimdienstschurkereien zusammentragen. Die Vor-Ort-Recherche wird mit Datenbank-Futter und brisanten Dokumenten, etwa von „Wikileaks“, ergänzt werden müssen, um die Verwobenheit sinistrer Machenschaften aufdecken zu können und komplexes Weltgeschehen einigermaßen verständlich zu machen – egal ob print oder/und online. Dann ist auch vorstellbar, dass ein gewonnener Leser bereit ist, dafür mehr als ein paar flattr-Cent zu spenden.

wf

Ein Gedanke zu „Die Zukunft des Journalismus ist investigativ und vernetzt“

  1. Die isländischen Nachrichten berichten heute, dass am 25. August 2011 FBI-Beamte nach Island flogen, in der Absicht, in Zusammenarbeit mit der isländischen Staatsanwaltschaft und dem Chef der isländischen Polizei gegen WikiLeaks zu ermitteln. Als der isländische Innenminister über die bevorstehende Zusammenarbeit der isländischen Strafverfolgungsbehörden mit dem FBI informiert wurde, gab er Anweisung, dass es keine Zusammenarbeit geben darf, und der isländische Außenminister nahm Kontakt mit der amerikanischen Botschaft auf. Nachdem die Beschwerde dort eingereicht wurde, bestiegen die FBI-Beamten einen Privatjet, und verließen Island:

    http://www.grapevine.is/Home/ReadArticle/FBI-Paid-A-Visit-To-Iceland-Was-Asked-To-Leave

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