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Ausweidung der Übungszone

Benito Salvarsani zu Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern

In seinem Buch Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie unterscheidet Wolfgang Stegmüller vier Stufen des diskursiven Nichtverstehens philosophischer Systeme. Diese Unterscheidung darf man auch als Lebenshilfe für schwankende Geister verstehen, die im Leben nicht weiterwissen, und nach Orientierungen im Dickicht des Denkens suchen, in dem so oft nicht der Geist herrscht sondern vielfache Varianten der Dummheit und der Eitelkeit.
In den Stegmüllerschen Seminaren wurde strenges logisches Denken geübt, der Gebrauch von Wahrheitstafeln und das Erreichen der sogenannten L-Wahrheit, eine Art philosophischer Orgasmus, und dabei erfuhr man, daß logische Wahrheit ein geschlossenes System ist, das auf sehr abgehobene Weise ästhetisch sein konnte, aber sonst mit dem empirischen Leben nichts zu tun hatte, sie war ein akademisches Ereignis.
Später habe ich gelernt, daß Leben kein geschlossenes System ist, sondern ein offenes und zwar nach vielen, wenn auch nicht allen Seiten. Ich verabschiedete mich von der analytischen Wissenschaftsphilosophie, die mir nichts als Depressionen eingetragen hatte, und ließ nur noch solche Denker in mein Leben, die etwas zum Dasein als offenem System beitragen konnten. Sie standen dem Akademismus fern und kamen in Stegmüllers Buch über die Hauptströmungen nicht vor, weil sie Nebenströmungen im universitären Gewese sind.

du musst dein leben ändernEinmal in den 80-ern habe ich beim Lesen Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft eine halbe Stunde lang geglaubt, diesen damals noch frischen Namen in den privaten Kanon meiner Weisheitslehrer aufnehmen zu können, aber spätestens ab Seite 50 begann der Autor um sich selbst zu kreisen, indem er einen vielleicht nicht unbrauchbaren Gedanken, den man in einem knappen Essay mit Gewinn hätte verhandeln können, auf Hauptwerklänge verdünnte, um sich schon durch die damit erreichte Dicke des Buchs und den schlau kalkulierten Titel auf die Ranghöhe eines Immanuel Kant zu hieven.
Jenen vielleicht nicht unbrauchbaren Gedanken habe ich dann schon während des Lesens vergessen, er hinterließ in meinem Leben keine Spur und keine Lücke, mir fehlte ohne diesen Gedanken nichts, ich war auch ohne ihn so glücklich oder unglücklich, wie man nur sein kann, und in den folgenden Jahren habe ich mich um die zerebralen Spreizungen des Karlsruher Fühldenkers nicht mehr gekümmert, nahm nur manchmal ein Mediengeschrei von ferne wahr, während die Qualitätsschreiber der deutschen Meinungspostillen für Bessergebildete ihm aufs devoteste die Füße leckten und jeden seiner sphärisch-blasigen Gedanken als etwas ex-cathedra-Gesprochenes nachsprachen, ja nachbeteten, als wäre soeben Moses vom Berg Sinai herabgestiegen. Ein solches Übermaß kritikloser Beflissenheit stieß mich ab.

Auch um das neueste Sloterdijksche Exprimat hatte ich mich nicht kümmern wollen, es ergab sich aber, daß ich aus Geselligkeitsgründen, die hier keine Rolle spielen, angehalten war, das Buch zu lesen, und nun sehe ich keine andere Möglichkeit, meine Seele zu reinigen (oder sollte ich sagen: mein Gewissen zu erleichtern?), als die Ergebnisse der Lektüre vor allem denen mitzuteilen, die vielleicht immer noch glauben, dieser Autor hätte ihnen etwas für ihr Leben Unverzichtbares zu sagen, hätte gar etwas vorgedacht, das nachzudenken sich lohnen könnte.

Der Anspruch des Autors ist, wie könnte es anders sein, der allerhöchste: eine neue Anthropologie muß her. Darunter geht gar nichts: Ich werde im folgenden die autoplastische Verfaßtheit der wesentlichen Humantatsachen zeigen. Mensch sein heißt in einem operativ gekrümmten Raum existieren, in dem die Aktionen auf den Akteur, . . . die Gedanken auf den Denkenden, die Gefühle auf den Fühlenden zurückwirken. (S. 174 f)

Das Ergebnis ist überraschend banal: der Mensch sei ein Übender, als Übender schaffe er sich selbst und wachse als solcher über sich hinaus. Diesen dösigen Turnvater-Jahn-Gedanken möbelt der Karlsruher Geistesathlet durch ein philosophisch instrumentiertes Potpourri auf, satt gespickt mit Fundstücken aus der indoeuropäischen Geistesgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Sie alle werden in den Sack einer sogenannten Anthropotechnik gequetscht (ein Wort, mit dem Sloterdijk schon einmal baden ging), unter Anrufung von Nietzsche als Schliemann der Askesen. (Wer aber mit Nietzsche begonnen hat, . . . kommt nicht umhin, das gesamte menschliche Feld im Licht der Allgemeinen Asketologie zu re-examinieren, deren Gegenstand, das implizite und explizite Übungsverhalten der Menschen, bildet den Kern sämtlicher historisch manifester Anthropotechniken . . . S. 174). Dieser kubistisch anmutende Arbeitswelt-Begriff aus den zwanziger Jahren, der Frühzeit einer blutrünstig-euphorischen Utopie des russischen Sozialismus ist am Ende schlicht mechanistisch zu verstehen (S. 59), eben als Üben oder Training oder entspiritualisierte Askese.

Einerseits warnt der Karlsruher Denkasket, der sich hier als philosophischer Bundestrainer anbietet, vor dem Gespenst einer Wiederkehr des Religiösen, andererseits gibt es seiner Meinung nach gar keine Religionen, einerseits ist Sport wie vieles andere zur Ersatzreligion geworden, andererseits ist gerade das als eine der Zumutungen und Verirrungen der Modernen zu bewerten.
Also, was denn nun? fragt man da, vor allem wenn Üben, Training, Askese die wesentlichen Mittel zur Verbesserung des Menschen sind, der, in Vertikalspannungen ausgerichtet, irgendwie eschatologisch nach dem Übermenschen schielt?
Bald schwant uns, was gemeint sein könnte: wie der Heideggersche Mensch in der Sorge um das Sein zentriert ist, erarbeitet sich der Sloterdijksche die Energie zur Selbstheilung (salutogene Energie) durch die wiedergewonnene Erfahrung des Erhabenen als Übender. Seiltänzer, Hungerkünstler, Fußgeiger und Mundmaler sind die asketologischen Vorturner dieses akrobatischen Existenzialismus. Was nun dieses Erhabene aber im eigentlichen Sinne sein könnte oder sollte, bleibt selber numinos und vor allem transzendental verdunkelt: also de facto doch wieder religiös, und es erscheint im Ethischen, nicht im Ästhetischen. Darum auch der geborgte, neue kategorische Imperativ: Du mußt dein Leben ändern, oder: Metaphysik betritt das Haus des Seins durch den Dienstboteneingang.

Meine Freunde, um deretwillen ich das Buch zu lesen hatte, rühmten den ungemein anregenden Überblick des Autors über weiteste Felder des Geistes und Denkens, und das ist wirklich offensichtlich: Sloterdijk hat sich bei vielen Autoren hemmungslos bedient, allen voran bei Nietzsche und Heidegger, wogegen nichts zu sagen wäre, im Gegenteil, er hat eben zuviel herumgelesen und exzerpiert und im Internet gewildert, und vor allem hat er es nach Art einer Ausweidung getan, will heißen: da plündert einer die Kleiderkammern des Geistes, um dann abzugreifen, was am besten auf den eigenen Leib paßt. Das Ergebnis gleicht monothematischen Sachbüchern nach Art von Horst-Eberhard Richter: Der Gotteskomplex oder Erich Fromm: Haben oder Sein, die in der Vorweihnachtszeit gern auf den ersten Plätzen der Bestsellerlisten stehen. Das Verfahren ist einfach: man schleudert eine beliebige These durch die philosophischen Waschtrommeln der Jahrtausende und verleiht ihr damit einen Glanz, den sie nie hatte, ja eine Art Weihe, man adelt sie, lenkt zugleich von der ursprünglichen Schlichtheit des Gedankens ab und verschleiert den Mangel eigener Ideen, bis die These reingespült im Licht fremder Gedanken als etwas Einzigartiges, scheinbar vollkommen Neues zu strahlen beginnt, bis sie den Schimmer eines Ureigenen, Unanfechtbaren annimmt, und was nicht paßt, wird passend gemacht. Der Karlsruher Gedankenwäscher beherrscht dieses Verfahren in hoher Perfektion, ja virtuos. Mit skrupellosem Griff in die Kassen dreier Jahrtausende Denkgeschichte deckt er die Bereiche Lebenshilfe und Sozialarbeit gleich noch mit ab. Wir ahnen: dies dürfte kein unwesentlicher Anlaß der gesamten Schreibunternehmung gewesen sein, denn der potentielle Leserkreis vermehrt sich damit sprunghaft, und darum ist auch der Titel wieder mal genial verkaufsfördernd gewählt.

Ferner lobten meine Freunde das, was bei mir als enervierende Logorrhoe ankam, als meisterliche Sprachgewalt und hohe rhetorische Erfindungsgabe als kreatives Talent in der Erfindung origineller Begriffe und Neologismen, und auch in diesem Punkt muß ich wahrscheinlich zustimmen. Da lese ich z.B. prophetischer Elitismus, perspektivischer Naturalismus, prozeßtheoretischer Renaissancebegriff, epochale Drehung zur Explizitmachung des Latenten usw., die Aufzählung könnte beliebig verlängert werden.
Ich finde sogar, daß der Karlsruher Geistesakrobat, hätte er nur die Absicht gehabt, als philosophischer Harlekin und geistiger Bodenturner aufzutreten, mir und vielen anderen durchaus Freude hätte machen können, auch wenn ich mir manchmal gewünscht hätte, er wäre vielleicht etwas weniger kreativ gewesen, weil wir bei ihm nicht sicher sind, ob so ein Wortspaß nur ein Spaß war, und nicht etwa eine hochwichtige Erkenntnis, deren tiefen Sinn wir nicht erfaßten, oder vielleicht doch nur eine ungewollte Stilblüte, oder Parodie, oder doch nur blanker Unfug, oder ob die vermeintliche Sprachgewalt (der Karlsruher Denkathlet nennt sie alternative Sprache) nicht Ausdruck einer unbeherrschten Eitelkeit ist, die uns in jeder Zeile sagt: dieser Autor will sich ganz nach oben gockeln, will uns eintrimmen, was für ein Pfundskerl er ist, einer, der sie alle toppt, koste es, was es wolle.
Den Ausdruck alternative Sprache würden wir darum gerne durch neuen Jargon der Eigentlichkeit ersetzen, der eher ein Jargon der Uneigentlichkeit ist, und vielleicht nicht einmal ein Jargon, sondern ein ausuferndes, redundant assoziatives Plaudern von einer Analogie zur anderen mit magerem Unterhaltungswert ohne Erkenntnisgewinn.

Wir sind im Umfeld des deutschen Hardcorephilosophie ja immer bereit, die Äußerungen eines öffentlich bestallten Schwerdenkers vom Typ Sloterdijk grundsätzlich und voller Bewunderung tiefernst zu nehmen, je dröhnender und wirrer uns dessen Glossolalie entgegenschlägt. Nehmen wir darum das verbale Tosen kurz noch einmal ernst. In der Einleitung ab Seite 21 skizziert der Karlsruher Übungsprophet einige für ihn bedeutsame Annahmen über das Immunsystem und behauptet, die biologische Evolution habe sich soziologisch und kulturell fortgesetzt und zu einer Aufstufung des Immunsystems geführt, nämlich zu sozio- und psycho-immunologischen Praktiken sowie einer dritten Immunitätsebene (kosmischer Immunstatus), dies sei vor allem der Stoff, aus dem die Anthropotechniken sind, also Werkzeuge und Mittel jenes über sich selbst hinausführenden Übens. Viele hundert Seiten später propagiert der Autor gar einen von ihm sogenannten Ko-Immunismus, ein besonders schräger Kalauer, ist er doch alternativ zum Kommunismus gemeint.
Nichts anderes wird uns hier hingerieben als eine aufgebrezelte Variante jenes im Volksmund immer noch populären Sozialdarwinismus, der jederzeit erlaubt, ein Volk als Körper zu beschreiben samt zugehörigen Parasiten, die beseitigt werden müssen.
Um ein tieferes Verständnis der Geistesbeute schert sich Sloterdijk kein Gramm. Brutal schlachtet er jeden Text für seine Zwecke nach Belieben aus, egal welcher Blödsinn hinten dabei rauskommt. Besonders bodenlos treibt er es mit Wittgenstein und der Sprachphilosophie, die er dem geistigen Stehenbleiben der Anglowelt nach 1945 zuschreibt. Wir schreiben diesen Ausspruch vor allem der völligen Schimmerlosigkeit der Karlsruher Nimrods und seiner mangelnden Kenntnis der englischen Sprache zu.

Analogisierendem Metaphernhopping steht eben Tür und Tor offen, denn philosophischer Gehalt ist das eine, und Sprache das andere, und gerade in Deutschland gilt derjenige, der sich klar ausdrückt, vielleicht geschult an angelsächsischen Traditionen, oft als simpel oder banal, auf keinen Fall als philosophischer Lebenslehrer, während derjenige, der dunkel raunend im Ungefähren wabbelt, freudig in den Rang eines Magiers und Sehers befördert wird, als würde das gebildete Lesepublikum hierzulande nach diesem raunenden Ton sich geradezu sehnen, als wäre es von Unklarheit viel stärker beeindruckt als von Klarheit und gedanklicher Schärfe, und man hört dann oft das Argument, in der Unklarheit und im Nebel bleibe doch so viel Raum für eigene Gedanken. Möglicherweise geht es im Zusammenhang mit solchen Schriften ja gar nicht um Vorgänge des Denkens oder Verstehens, Erklärens oder Erkennens, sondern um Mitfühlen, Glaube, Anbetung, Gefolgschaft.
Klarheit, Plausibilität oder einfache Nachvollziehbarkeit wären dann eher schädliche Eigenschaften eines solchen Textes, und das absichtsvoll Dunkle, Hermetische hätte auch noch den Vorteil, daß sein Autor sich damit unangreifbar machte, und sich jederzeit darauf berufen könnte, man habe ihn falsch oder überhaupt nicht verstanden.

Nicht auszuschließen, daß wir falsche Erwartungen hatten. Dieses Buch in seiner Weitschweifigkeit und Lauthalsigkeit soll offenbar nicht das Musterbeispiel rationaler Erwägungskunst sein, das wir erhofft hatten. Viel besser paßt es in eine Konsenz- und Wohlfühlgesellschaft, die Rationalität haßt, und sich viel lieber mit Wundenlecken, Ayurveda und good vibrations verständigt, und dazu fügt sich bestens der Habitus des Autors als Guru.

Die Reaktionen des Qualitätsjournalismus sprechen Bände. Unkritisches Lob und enthemmte Bewunderung dominieren. Nicht einer dieser Schreiber brachte den Mut auf, Sloterdijks neue Kleider als das zu beschreiben, was sie sind. Auffallend war jedoch, daß die meisten Blätter ihre B-Mannschaft auf den Rezensionsplan schickten, die Süddeutsche z.B. Jens Bisky, den wir sonst vornehmlich als Obmann für DDR-Fragen kennen. Entsprechend Unbedarftes hat er von sich gegeben.

Sofern Fritz Gimpls bekannte Definition des Kitsches: das Nichts im Gewande des Scheins noch gültig ist, woran wir nicht zweifeln, stellen wir abschließend fest: Peter Sloterdijk hat eine neue Gattung des Kitsches kreiert: den Philosophiekitsch.
Im Sinne Wolfgang Stegmüllers hat der Karlsruher Geistesmatador eine 5. Kategorie des diskursiven Nichtverstehens geschaffen, jene eines philosophischen Autismus, der nur noch sich selbst etwas mitteilen will, ohne zu wissen, um was es geht. Das ist am Ende auch eine Leistung. Für 24,80 € ist sie zu haben.

© Benito Salvarsani & Lit-eX

3 Gedanken zu „Ausweidung der Übungszone“

  1. Daß Philosophen bisweilen weltfremd sein können, ist ja bekannt; daß diese aber
    auch gemeingefährlich sein können, schon weniger. Vielleicht ist der Herr S. kein
    „Weisheitsliebender“, sondern nur ein gewöhnlicher Wahrheitsverächter.

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