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Die rasende Eigenzeit

Zur Zeit läuft im Forum der deutschen „Brights“ eine interessante Diskussion im Thread „Empfinden und Physik der Zeit“, in der es natürlich auch um die wissenschaftlichen Aspekte des Themas wie Relativitätstheorie, Gravitation, Atomuhren, GPS etc. geht. Anlass dazu war die (fast) jedermann vertraute, banale Fragestellung, warum sich die eigene Lebenszeit, je älter man wird, zu beschleunigen scheint. Ebenso banal die naheliegende Antwort, dass schließlich jedes abgelaufene Jahr einen geringeren Prozentanteil des schon Gelebten einnähme. Manche Menschen allerdings scheinen das gar nicht wahrzunehmen, da sie zeitlebens so mit dem Aufblasen ihres Ego beschäftigt sind, dass sie am Ende nur noch verdutzt feststellen: „Oh, das war’s schon?“

Für Andere kann die Beschäftigung mit dem Thema aber nicht nur die eigene Vergänglichkeit bewusst machen, sondern auch hilfreich sein, ‚Edelstahlhaken in die bröckelnde Zeit zu schlagen‘, sprich, einen persönlichen Sinn zu finden und die Welt aktiv zu erleben und mitzugestalten.

In diesem Sinn betrachtete Martin Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ die Zeitlichkeit als die zutiefst das Menschsein prägende Wirklichkeit. Die menschliche Existenz, das Dasein wird von Heidegger verstanden als faktisches ‚Schon-sein-in der Welt‘, das durch seine Ausrichtung auf die Zukunft (Sich-vorweg-Sein) im Ergreifen der eigenen Möglichkeiten sein eigenes Seinkönnen bestimmt.

Vielleicht geht es ja dir, reflektierender Zeit-Genosse, auch manchmal so, dass dir diese Daseins-Realität in der Zeit umso bewusster wird, je besser es gelingt, in einen Zustand der Zeitlosigkeit einzutreten, den ‚rasenden Ereigniszug auf den klackernden Schwellen der Zeit‚ meditativ vorbeiziehen zu lassen und, wie Plotin schreibt, in völliger Gegenwärtigkeit eine raum- und zeit­lose Gleich­zeitigkeit als Ewigkeit zu empfinden.

Schon der „Philosophenkaiser“ und „letzte Stoiker“ Marc Aurel empfahl zu diesem Zweck das Nachdenken über den Tod als Übung der Achtsamkeit. Nach den Vorstellungen von Mystikern wie Meister Eckhart und der Philosophia perennis erfordere die Erfahrung der Zeitlosigkeit die Aufgabe der Identifikation mit Sinneswahrnehmungen, betonen dabei aber, dass das Einüben dieses Bewusstseinszustandes gewöhnlich nur durch langjährige Übung erreicht wird. Dabei sind sie ebenso wie die Stoa nahe an den östlichen Weisheitslehren wie dem Zen-Buddhismus, in dessen Lehre der Wechsel des Identitätsbewusstseins, vom Zeitbewusstsein in das Gegenwartsbewusstsein in verschiedenen Abstufungen beschrieben wird und letztlich als eine Erleuchtungserfahrung gilt. Aber auch im islamischen Sufismus werden ähnliche Anweisungen für den „Weg der Derwische“ gegeben. Einig sind sich alle Traditionen darin, dass der Mensch grundsätzlich die Fähigkeit besitzt, im Gegenwartsbewusstsein zu leben.

stephen hawkingNatürlich spielt das subjektive Zeitempfinden, das sehr stark von sozialen und kulturellen Gesellschaftskontexten beeinflusst wird, auch in der belletristischen Literatur eine maßgebliche Rolle; wie etwa von einem Teilnehmer der Brights-Diskussion mit Recht auf Thomas Manns „Zauberberg“ hingewiesen wird, der sich des Themas subtil und vergnüglich annimmt. Dieser Empfehlung schließe ich mich gern an und lege für die eher physikalisch am Thema Interessierten noch eine drauf: den mittlerweile zum ‚Klassiker‘ avancierten Stephen Hawking – „Eine kurze Geschichte der Zeit“.

wf

Ein Gedanke zu „Die rasende Eigenzeit“

  1. Diesen Beitrag habe ich u.A. auch deswegen in der Kategorie „Buddhismus“ mit-gepostet, weil mir nicht nur die Geistesverwandschaft der Stoiker und Neuplatoniker zu den Anschauungen Gautamas evident erscheint, sondern auch weil Thomas Mann und vor Allem Heidegger dem philosophischen Buddhismus nahe standen.
    Wie schon anderweitig erwähnt, haben die antiken Verbindungen via Seidenstraße, Graeco-Buddhismus und Bibliothek von Alexandria wohl zu intensivem Ideenaustausch geführt; leider ist die Bibliothek ja abgebrannt.

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