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Weihnachts-Buchtipp: die Marx-Bio von Jürgen Neffe

neffe - marx-biographie

Für unsere allvorweihnachtlichen „Buchtipps für untern Baum“ hat uns Christoph Maier seine Empfehlung zugesandt: „Marx. Der Unvollendete“ von Jürgen Neffe. Passt sowohl zum Ausklang des diesjährigen Marx-Jahres wie auch zur aktuellen Debatte über wachsende Ungleichheit und die Verheerungen des weltweiten Finanzkapitalismus.
Wer ebenfalls noch einen Weihnachts-Buchtipp für unsere Leser*innen im Köcher hat, kann uns den gern in Form einer Kurz-Rezi per e-mail zusenden.

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Ein Meilenstein in der Geschichte des abendländischen Denkens

Ganz verschwunden war er ja nie, auch in meinen Kreisen, im Lehrerkollegium und im streitbaren Teil meiner Verwandtschaft, huschten der Name und die Theorie-Schatten von Karl Marx immer wieder mal durchs Politgeplauder. Allerdings war er für mich mehr ein Mann vom Hörensagen und ich hatte noch kaum etwas von ihm gelesen, als im Frühjahr diesen Jahres anlässlich seines 200. Geburtstags ein mediales Bohei wie zu noch kaum einem anderen Großdenkergedenken durchs Land schwappte. Bis dahin firmierte Marx eher im Hintergrund meiner politischen Einstellungen unter dem zappaesken Label „Marx isn’t dead, he just smells funny“, aber nachdem ich etliche Geburtstags-Elogen gesehen und gelesen hatte, keimte in mir der Verdacht, dass er vieleicht gar nicht so komisch rieche, sondern dass sich eine nähere Beschäftigung mit seinem Werk und Leben lohnen könnte. War Marx vielleicht doch ein „weitsichtiger Analytiker und humanistischer Visionär“, wie er von mehreren Gratulanten hochgejazzt wurde? Ich sollte mir doch was Ausführlicheres über ihn besorgen und mich in Ruhe damit beschäftigen.

neffe - marx-biographieNun war es ganz praktisch, dass die Vielzahl der Feuilleton-Beiträge mir bei der Entscheidung halfen, welche der zahlreichen zum Geburtstag erschienenen Marx-Biographien ihren Platz auf meinem Nachtkästchen finden sollte. Meine Wahl fiel schließlich auf „Marx. Der Unvollendete“ des Autors und Journalisten Jürgen Neffe, die bereits einige lobende Rezensionen eingeheimst hatte; zudem machte er in Interviews mit verschiedenen Kultursendern einen guten Eindruck als unprätenziöser, durchaus kritisch eingestellter Investigator in Marx’schen Angelegenheiten.

Bei der Lektüre des gewichtigen 656-Seiten-Werks wird schnell klar, dass Neffe sich ausführlich mit dem umfangreichen Quellenmaterial beschäftigt hat. Anhand von Originaltexten, Zeitungsartikeln und privaten wie öffentlichen Korrespondenzen zeichnet er in 34 Kapiteln die Lebensstationen und parallel dazu die Entwicklung der politisch-ökonomisch-philosophischen Theorien von Karl Marx nach. Es ist keine trocken-akademische Abhandlung, sondern eine spannende Erzählung, weil es Neffe gelingt, den Menschen und Denker Marx mit literarischen Mitteln in seiner Widersprüchlichkeit auszuleuchten, „als hätte da einer tatsächlich ein Doppelleben zwischen Mr. Marx und Dr. Marx geführt“.

Die chronologisch-geographische Reise führt von Marxens Kindheit und Jugend in Trier über das Philosophie-Studium in Berlin und die Journalistenarbeit bei der „Rheinischen Zeitung“ zu den Exilstationen Paris, Brüssel und London. 1843 heiratete er seine vier Jahre ältere Verlobte Jenny von Westphalen, die ihm trotz zahlreiche Schicksalsschläge (von ihren gemeinsamen sieben Kindern überlebten nur drei, ein außereheliches hatte Marx mit der Haushälterin Helena Demuth) bis zu ihrem Tod 1881 treu zur Seite stand. Marx konnte in all den Jahren nicht nur liebender Vater und Ehegatte sein, sondern auch starrsinniger Eigenbrötler, Geldverschwender, ein von Krankheiten schwer Gezeichneter und arroganter Verfasser von Schmähschriften an seine politischen Widersacher. Schon seit seiner Berliner Zeit in der dortigen Hegelianer-Szene musste er stets seine Überlegenheit demonstrieren – aus Überzeugung von seiner Mission, den Menschen aus erniedrigender Knechtschaft und wirtschaftlicher Abhängigkeit zu befreien, wobei sein Welt- und Menschenbild von einer Umkehrung des Hegelschen Idealismus geleitet wurde: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“

Auch die bedeutende Rolle von Friedrich Engels als langjährigem besten Freund der Familie Marx, als Co-Autor wichtiger Schriften und als „Antreiber“der Marx’schen Produktivität erhält gebührenden Raum. Im Londoner Exil hätte die Familie Marx ohne Engels‘ dauerhafte finanzielle Unterstützung, die der Fabrikantenerbe sich allerdings leisten konnte, kaum überleben können.

Besonders lohnend ist die Lektüre für Alle, die mit ihrem Viertelwissen in Sachen Marx bisher kaum wagten, in einschlägigen Diskussionen mitzureden. Wer möchte denn freiwillig Marx‘ schwieriges dreibändiges Hauptwerk „Das Kapital“ in Gänze lesen? Neffe extrahiert auf verständliche Art die Kerngedanken dieser ebenso gefeierten wie umstrittenen Kapitalismus-Diagnosen, die auch heute noch „nach so langer Zeit mit ihrer Aktualität verblüffen können“, sogar die kapitalbefeuerte Globalisierung mit unausweichlichen Finanzkrisen würde darin prophezeiht; ein „Meilenstein in der Geschichte des abendländischen Denkens“.

Denn es scheint offensichtlich zu sein: Glaubten doch die meisten westlichen Politiker und Ökonomen, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Systems sei „Das Ende der Geschichte“ mit einem endgültigen Sieg des neoliberalen Kapitalismus gekommen, so riss der große Crash an der Wall Street im Herbst 2008 ein Riesenloch in dieses saturierte, aber doch schon marode Denkgebäude und läutete Marx‘ Renaissance ein, die in diesem Geburtstagsfeierjahr 2018 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Neffe trägt mit dieser gelungenen, auch mit etlichen Fototafeln und Quellenangaben ausgestatteten Biographie sicher dazu bei.

Und ja, könnte ich hier noch ein weiteres Buch zum Thema vorstellen, dann wäre es das von dem Kulturphilosophen Joseph Vogl: „Das Gespenst des Kapitals“. Darin wird der Glaube an die Alternativlosigkeit des modernen Kapitalismus und die Segnungen der Finanzwirtschaft nachhaltig erschüttert – so actually Marx is not dead…

Christoph Maier


Zur Aktualität von Karl Marx im Deutschlandfunk Kultur:

Jürgen Neffe und Matthias Zimmer im Gespräch mit Marcus Pindur: Was kann uns Marx heute sagen?

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Jürgen Neffe
Marx. Der Unvollendete.
Bertelsmann Verlag, 656 Seiten
ISBN-13: 978-3570102732

Ein Gedanke zu „Weihnachts-Buchtipp: die Marx-Bio von Jürgen Neffe“

  1. Die Schlussempfehlung von Vogls „Das Gespenst des Kapitals“ taugt eher nicht „für untern Baum“. Eine Zusammenschau (bekannter) Ökonomie-Kritiken, aber dermaßen Edelfeder-verschwiemelt, voraussetzungsvoll und begriffshuberisch abgehoben, dass es wohl auch für die meisten Akademiker aus den Geisteswissenschaften an der Grenze zur Unlesbarkeit liegt. So ziemlich das Gegenteil von Wittgensteins Diktum „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen“.

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