Zum Inhalt springen
Startseite » Wittgenstein in der Schule – und ein Ausweg aus dem Fliegenglas

Wittgenstein in der Schule – und ein Ausweg aus dem Fliegenglas

Ludwig Wittgenstein

Niemand hat von der neuen Pisa-Studie erwartet, dass dabei die Fähigkeiten der Schüler hinsichtlich ihrer Entwicklung zu einer reflektierten Anschauung der ‚Welt‘ oder gar einer Art von ‚Lebenskunst‘ geprüft würde; die Studie geriert sich in medialem Hype als Wettbewerbs-Ergebnisliste eines globalen Ökonomisierungsprinzips, fernab des humanistischen Bildungsideals von Lernen & Studieren als Grundlage zur Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit und als geistiger Basis einer autonomen Lebensführung. Längst hat sich der gesellschaftliche Kult um die Schulpolitik zu einem modernen Aberglauben entwickelt, in dessen Zentrum der Hochaltar des neoliberalen Utilitarismus seine Lakaien zu den Götzendiensten der Wissenserwerbseffizienz um sich versammelt. Somit auch ein klarer Fall für Papst Franziskus („Diese Wirtschaft tötet“).

Doch auch ohne den jesuitischen Befreiungstheologen im Vatikan findet sich in diesem Narrativ einer Bildungs-Dystopie eine Anmutung von Widerstand durch etliche Rebellen gegen die strukturelle Effizienzpädagogik: es ist das Häuflein der engagierten Lehrer (von denen gleich nochmal die Rede sein wird), die über die fachliche Wissensvermittlung und ihren Gelderwerb hinaus ein pädagogisches Anliegen haben, die sich als Aufklärer und als Therapeuten in Sinnfragen verstehen und das natürliche Bedürfnis junger Menschen zu kritischem Hinterfragen fördern statt abzuwürgen; und sie sind damit (was Schule noch viel mehr bräuchte) schon ganz taugliche Philosophen.

Indes, nicht jeder Philosoph taugt auch zu einem guten Lehrer, die pädagogische Basisarbeit in einem oft geistig restringierten oder gar feindlich gesinnten Milieu hält nicht jeder lang durch, auch wenn die Motivation anfangs vielleicht hoch gewesen sein mag.
So erging es Ludwig Wittgenstein, der im September 1920 im österreichischen 800-Seelen-Kaff Trattenbach seine erste Stelle als Volksschullehrer antrat. In freudiger Anfängerlaune schrieb er noch am 11. Oktober 1920 seinem Freund Engelmann: „Ich bin jetzt endlich Volksschullehrer und zwar in einem sehr schönen und kleinen Nest, es heißt Trattenbach (bei Kirchberg am Wechsel, N.Ö.). Die Arbeit in der Schule macht mir Freude und ich brauche sie notwendig; sonst sind bei mir gleich alle Teufel los.“ Aber grad mal ein Jahr später, während dessen Wittgenstein weder mit seinen Schülern, seinen Lehrerkollegen, noch mit den Dorfbewohnern zurechtkam, drehte sich sein Urteil ins Gegenteil. Am 23. Oktober 1921 schrieb er an Bertrand Russell: „Bei mir hat sich nichts verändert. Ich bin noch immer in Trattenbach und bin nach wie vor von Gehässigkeit und Gemeinheit umgeben. Es ist wahr, dass die Menschen im Durchschnitt nirgends sehr viel wert sind. Aber hier sind sie viel mehr als anderswo nichtsnutzig und unverantwortlich. Ich werde vielleicht noch dieses Jahr in Trattenbach bleiben, aber länger wohl nicht, da ich mich hier auch mit den übrigen Lehrern nicht gut vertrage.“

Ludwig Wittgenstein

Ludwig Wittgenstein

Nach Russells Antwort, die Menschen seien doch überall gleich schlecht, schrieb ihm Wittgenstein resigniert: „Du hast recht: nicht die Trattenbacher allein sind schlechter, als alle übrigen Menschen; wohl aber ist Trattenbach ein besonders minderwertiger Ort in Österreich und die Österreicher sind seit dem Krieg bodenlos tief gesunken, dass es zu traurig ist, davon zu reden! So ist es.“
Dummerweise hatte sich Wittgenstein auf ein ihm unbekanntes Terrain gewagt, da er die Volksschule aus eigenem Erleben gar nicht kannte; er selbst war ja bis zu seinem 14. Lebensjahr von privaten Hauslehrern unterrichtet worden. Dazu kam, dass er in seiner zweijährigen Lehrtätigkeit in Trattenbach keine anständige Wohnung bezog, sondern viermal von einem miserablen Kämmerlein in ein anderes umzog, wobei er einen Großteil seiner Freizeit mit Holzhacken und stundenlangem Sterne-Gucken verbrachte; er blieb Außenseiter mit nur wenigen Sozialkontakten und kein Schul- oder Küchenpsychologe wird sich darüber wundern, dass sich Wittgenstein unter solchen Lebens- und Arbeitsbedingungen auch gern zu „handgreiflichen“ Unterrichtsmethoden hinreißen ließ, was die Trattenbacher dem ungeliebten Lehrer in einer Spirale von Animositäten durch noch mehr Ausgrenzung heimzahlten.
Aber dass man auch den verhasstesten Gemeindemitgliedern allerlei nachsieht, sofern sie irgendwann richtig berühmt geworden sind (Wittgensteins 1921 erschienener „Tractatus“ war dato nur Insidern bekannt), zeigte sich auch in Trattenbach: ausgerechnet dort wurde nämlich 1974 in einem Gasthof die Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft gegründet.

Wittgensteins ‚Prügelpädagogik‘ führte auch zum Ende seiner Lehrerkarriere, denn nachdem er in Otterthal, seiner dritten und letzten Anstellung, einen Schüler bewusstlos geohrfeigt hatte, schied er auf eigenen Wunsch aus dem Schuldienst aus und verdingte sich erstmal ein paar Monate als Gärtnergehilfe in einem Kloster bei Wien, wo er in einem Werkzeugschuppen hauste. Wie’s dann mit ihm in Richtung besserer Verhältnisse weiterging, wisst ihr wahrscheinlich oder könnt es  hier nachlesen.
Doch immerhin zog Wittgenstein aus seiner Lehrtätigkeit noch die Motivation, um am Ende das kleine „Wörterbuch für Volksschulen“ (1926) zu schreiben – ohne jeden philosophische Anspruch. Von der österreichischen Schulbehörde wurde dieses mit Dialektausdrücken durchsetzte „Wörterbuch“ wegen einiger Schwächen zwar nicht gerade enthusiastisch aufgenommen, aber letztlich doch gedruckt, da man feststellte, „daß nach Beseitigung der angeführten Mängel das Wörterbuch einen immerhin brauchbaren Unterrichtsbehelf für die Oberklassen der Volks- und Bürgerschulen darstellt.“

Man sieht also, dass Wittgenstein himself für den Pädagogen-Job eher ungeeignet war, aber die uns hier interessierende Frage ist nun, ob sein sprachphilosophisches Werk für schulische Unterrichtszwecke geeignet sein könnte. Und das ist es in der Tat, und zwar ohne dass man es den Schülern einprügeln muss (das zeigt sich schon daran, dass unter Philo-Ironikern das Verb „wittgensteinigen“ ungebräuchlich ist – im Gegensatz zu „heideggern“ oder „durchhegeln“).

Zu den anfangs erwähnten philosophisch engagierten Lehrern zählt sicherlich auch mein ehemaliger Kommilitone N., den ich beim gemeinsamen Germanistik-Studium an der LMU kennengelernt hatte und der im Gegensatz zu mir ein anständiger Deutschlehrer an einem Münchner Gymnasium geworden ist. Und natürlich gehört N., wie Ihr euch schon denken könnt, nicht zu jenen Lehrern, die den Wittgenstein für einen Schweizer Alpengipfel halten. Ne, er hatte über seinen Schreibtisch sogar ein Memo gepinnt mit der Abwandlung eines berüchtigten Bonmots von Wittgenstein: „Was ist das Ziel guten Unterrichts? – Dem Schüler einen Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“

Als ich dieses Memo kürzlich bei einem meiner Besuche bei N. entdeckt hatte (die Liege in seinem Arbeitszimmer ist eine meiner Übernachtungsgelegenheiten, wenn mich die Stadt mal wieder mal ruft), wollte ich etwas genauer wissen, wie das gemeint sei.

„Ausweg aus dem Fliegenglas?“, lachte er, „tja, lass es mich mit einer anderen Metapher ausdrücken: die Kids kommen nur durch selbstständiges Denken aus dem marktwirtschaftlich organisierten Stall der Wissens-Wiederkäuer raus, und um das zu entwickeln kann der Wittgenstein ganz hilfreich sein. Schließlich reflektieren wir über die Beschaffenheit aller Ställe und Weiden dieser Welt in Begriffen, mit denen wir nicht nur erfassen wollen, was der Fall ist, sondern immer auch etwas Eigenes, eine Färbung oder Interpretation verbinden. Dazu taugt allerdings weniger Wittgensteins Tractatus, jene Logisch-philosophische Abhandlung mit ihren Wahrheitstabellen und der starren Abbildtheorie der Sprache. Du erinnerst dich ja sicher, dass Wittgenstein dieses Werk am Ende gleich selber revidiert, wenn er schreibt ‚Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie „“ auf ihnen „“ über sie hinausgestiegen ist‘.
Viel geeigneter für die Entwicklung eines sensiblen Sprachbewusstseins und damit eines eigenen ‚geistigen Stils‘ ist sein Spätwerk Philosophische Untersuchungen, in deren Mittelpunkt ja das Konzept der Sprachspiele steht. Und genau da kann ich als Deutschlehrer wunderbar pragmatisch einhaken, weil jede Schülergeneration sich ihrer eigenen Sprachspiele, also für Erwachsene teilweise unverständlicher Codes bedient, die ständig durchs Klassenzimmer schwirren und nur drauf warten, endlich mal auf ihre oft sehr schillernden Verwendungen hin analysiert zu werden. Dieses Bewusstwerden von Wittgensteins Diktum ‚Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache‘ macht die Kids aufmerksamer für semantische Zusammenhänge und Feinheiten und erhöht die Lesekompetenz, sogar von Lyrik, mit der ich meine Schüler ansonsten jagen könnte. Und zu lachen haben wir im Unterricht auch immer was, etwa wenn wir Politikergeschwätz oder Floskeln aus den Feuilletons als begrifflich verschwommene und beliebig anpassbare Worthülsen dekonstruieren. Dabei gehts mir natürlich nicht nur um meinen Unterricht, denn weil Sprachbewusstsein ein Schlüssel zur Welt ist, profitieren ja alle Fachbereiche davon. Ha, die Kollegen könnten sich ruhig mal bei mir bedanken!“

„Oder, noch besser, selber was von deinem Konzept übernehmen!“, erwiderte ich, ein wenig benommen von N.s engagierter Rede, die ich einem pensionsberechtigten Staatsdiener nicht wirklich zugetraut hatte.

„Na ja, vielleicht nicht direkt diesen sprachphilosophischen Ansatz, dafür gibts in anderen Fächern zu wenig Explikationsmöglichkeiten, aber tatsächlich findst bei uns an der Schule noch a paar andere Kollegen, die über ihren fachlichen Tellerrand schaun und a paar Erziehungsideale haben, Philosophie inclusive. Einmal im Monat treffen wir uns sogar zu ner kleinen Stammtischrunde.“

„Aha, ein subversiver Zirkel also“, schmunzelte ich, „und wahrscheinlich habt ihr alle die Revoluzzerschrift des Herrn Precht in der Tasche…“

„Na, eine Bildungsrevolution muss es gar nicht sein; das System kann man nur langsam aber stetig ändern. Siehst ja, wie schon manche Ansätze der Reformpädagogik an etlichen Schulen Eingang in den Unterricht gefunden haben. Oder wie das Erfahrungs-basierte Lernkonzept und die demokratischen Unterrichtsstrukturen von John Dewey mancherorts wenigstens ansatzweise praktiziert werden. Kürzlich haben wir in unserem Kreis sogar mal über Whiteheads altes Teil „Die Ziele von Erziehung und Bildung und andere Essays“ diskutiert, worin er 1916 nicht nur die grundlegenden Elemente seiner Philosophie und die Ideale der Arbeitsweise in der Mathematik, sondern auch seine Vorstellungen von einer gelungenen Erziehung und Ausbildung zusammengfasst hat. Mit so Ideen, dass Kreativität und der richtige Mix aus Freiheit und Disziplin die Basis zur Selbstentwicklung und Sinnfindung in Erfahrungsprozessen sein sollten. Aber bei all dem liegt halt der Teufel im Detail, in der praktischen Umsetzung durch die Eigeninitiative der Lehrer, doch in der Hinsicht macht’s uns das bürokratische System nicht leicht.“

„Ja, kein Wunder, dass viele resignieren. Aber Chapeau!, mein lieber N., dass du noch wacker kämpfst. Da werd ich doch glatt mal was zum Thema ‚Wittgenstein in der Schule‘ bloggen, quasi zur Belohnung, und damit’s vielleicht den einen oder andern Kollegen von dir inspiriert. Aber jetzt komm, pack ma’s, wir müssen los, der Kabarett-Abend vom Pispers beginnt in ner halben Stunde, und versprochen: da kriegt auch eine bestimmte Sorte Lehrer ihr Fett weg!“

Ja, und da gingen wir dann auch hin; und während der Fahrt gab mir N. noch den Tipp, im Falle eines Wittgenstein-Blogs doch die „Sternstunde Philosophie“ mit dem Wittgenstein-Forscher Hans-Johann Glock einzubauen. Da erführe man in einem lockeren Gespräch mit der Interviewerin Barbara Bleisch die Wahrheit über Wittgensteins Fliegenglas, und viel über den Unterschied zwischen der Tractatus-Sprachlogik und Wittgensteins späterer Philo-Denke, und zwar so, dass auch noch der letzte Lehrer (hat N. gesagt ;-) das kapiere…

Mach ich doch gern, hier also aus der Reihe «Klassiker reloaded» (vom 17.03.2013):

(Sollte der SRF-Videoplayer wieder mal nix liefern, erreicht ihr den Beitrag über diesen Link.)

Dieses Interview war übrigens die Grundlage für das darauffolgende „Sternstunden“-Schüler-Gespräch, das Elena und Mathias von der Fachmittelschule Heerbrugg mit Hans-Johann Glock geführt haben – findet ihr hier im Beitrag Mehr Philosophie in den Schulen!


Und was gab’s dann beim Kabarett von Pispers? Na klar, sowas über Lehrer und Schule:

wf

3 Gedanken zu „Wittgenstein in der Schule – und ein Ausweg aus dem Fliegenglas“

  1. Toll! Den Pispers kenne ich übrigens persönlich. Stand, als Kommilitone, mit ihm auf der Studiobühne in Münster, in „The Royal Hunt Of The Sun“. Danach ist der Kontakt allerdings verloren gegangen. Jedenfalls bin ich jetzt selbst im pädagogischen Alltag in einem Internat gelandet, und mir gehts wie Wittgenstein: die Welt ist schlecht und die Leute halt noch schlechter …
    Immerhin habe ich dort angefangen zu bloggen, was zu meinem ganz persönlichen Ausweg aus dem Fliegenglas wurde. Dennoch: in der Kontroverse Wittgenstein-Popper ziehe ich Popper vor. Wittgenstein habe ich nie verstanden. Popper hingegen schon. Glaube ich zumindestens.

    1. Na, hättst doch den Kontakt zum Pispers gehalten, dann könntest heut vielleicht auch von der Kabarettbühne aus ein wenig die Welt verbessern ;-)
      Ja, bloggen kann (gerade in Wittgensteins Sinne) eigentherapeutische Wirkung haben, sofern man sich im eigenen Fliegenglas einigermaßen auskennt.
      Ich find, dass sich das Denken Poppers und Wittgensteins ganz gut miteinander verträgt, obwohl sich die beiden nicht grün waren und sich nur einmal getroffen hatten – 1946 in Camebridge (mit W.s angeblicher Schürhaken-Attacke auf P.).
      P.s Ablehnung von W. gründete ja auf dessen Tractatus, und die „Philo Untersuchungen“ waren noch nicht veröffentlicht. Aber letztlich treffen sich die beiden Wiener in ihrer pragmatistischen Ausrichtung, W. mit seiner Philo der Alltagssprache und P. mit seinem Kritischen Rationalismus. Wobei zugebenermaßen Popper klarer, wissenschaftsorientierter argumentiert und formuliert als Wittgenstein. Lesens- und überdenkenswert sind beide.

  2. „Wobei zugebenermaßen Popper klarer, wissenschaftsorientierter argumentiert und formuliert als Wittgenstein?“
    – Die Wahrheit liegt gut sichtbar vor jedes Menschen Fuß: Unkraut überlebt jede Nutzpflanze; und rückt man Unkraut wirksam zu Leibe, stirbt es. Gemeinsam mit der Nutzpflanze.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.