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Kognitive Psychologie: Joachim Hoffmanns „Vorhersage und Erkenntnis“

Niemand kann sagen, wieviele Bücher, die einmal mit viel Mühe und Gedankenreichtum verfasst worden sind,  fast ungekauft & ungelesen in Archiven verstauben. Dafür kann es viele Gründe geben, und Manches gerät zurecht in Vergessenheit, aber manchmal erinnert sich einer der wenigen Leser bei passender Gelegenheit an eine These aus so einem Werk, die in einem aktuellen Zusammenhang diskutabel erscheint, und erweist ihr auf diese Weise eine späte Referenz. Da in solchen Fällen aber die anderen Mit-Leser und -Debattierer meist nicht wissen, auf welchen originären Zusammenhang sich diese Referenzierung bezieht, ist es hilfreich, wenn man dazu ein wenig support bekommt, und sei es in Form einer Kurzzusammenfassung – niemand kann schließlich all die empfohlenen Lektüren selber komplett absolvieren geschweige denn kaufen. So kam es hier kürzlich in einer Kommentar-Diskussion zum Hinweis auf das ‚untergegangene‘ Buch „Vorhersage und Erkenntnis“ des Psychologie-Professors Joachim Hoffmann, zu dessen wenigen Lesern der Bielefelder Kultur- und Literaturwissenschaftler Christian Wiebe gehört, der es uns nach seiner ‚Einbringung‘ nun hier vorstellt:

Joachim Hoffmann: Vorhersage und Erkenntnis – Eine Rezension von Christian Wiebe

Ein Jubiläum, das wirklich niemand beachten wird, das ganz allein hier von mir, dem Rezensenten, gefeiert wird „“ ein Dankeschön für diese Möglichkeit: Vor zwanzig Jahren erschien Joachim Hoffmanns Arbeit „Vorhersage und Erkenntnis“. Keiner kennt das; das Buch ging damals völlig unter. Die einzige Amazon-Kundenrezension von 2002 mit dem Titel „gut gemeint ist nicht gut geschrieben“ konnte dem Werk auch nicht aufhelfen. Schon vor zwanzig Jahren war seine Form für eine psychologische Arbeit antiquiert: auf Deutsch, zu dick, zu viel Wissenschaftsgeschichte, zu kompliziert. Ach, und dann dieser DDR-Muff. Wie soll das Forschung sein? Das hat man vielleicht „da drüben“ so genannt.

Es ist Forschung, sehr gründliche. Und da das Buch kaum jemand gelesen hat, es also kaum Eingang in die Wissenschaftsdiskurse gefunden hat, liest es sich teilweise noch immer originell. So ist das mit Entdeckungen. Allerdings, um auch das zu klären, es ist nicht meine Entdeckung. Mein Psychologie-Professor empfahl es mir „“ das liegt nun schon ein wenig zurück „“, ich wollte damals, am Ende des Studiums, doch noch wissen, wie es sich nun mit dem Bewusstsein und dem freien Willen verhält. Um beide Aspekte kümmert sich Hoffmann im Grunde überhaupt nicht, was mein Psychologie-Professor, Herr Neumann, selbstverständlich wusste. Aber Joachim Hoffmann versucht nichts weniger als die psychischen Grundlagen menschlicher Erkenntnis aufzuschlüsseln, und dann ist der Weg zum Bewusstsein nicht weit, und genauso schnell wäre man mitten in der Philosophie gelandet, also hier im Blog.
Es ist noch immer reizvoll, das Buch zu lesen, weil es eine starke These hat. Ich bin in dieser Rezension nicht in der Lage, Hoffmanns Ergebnisse mit den letzten zwanzig Jahren psychologischer Forschung abzugleichen und zu sagen: Hier hat er Recht und hier liegt er daneben. Ich stelle seine These vor, das soll nach zwanzig Jahren Ungelesenheit genügen.

Joachim Hoffmann

Joachim Hoffmann

Im Kern lautet die These des Buches: Der Mensch erkennt, um sein Verhalten anzupassen. Alle kognitiven Prozesse werden in einen Zusammenhang mit dem Verhalten gebracht. Das erinnert sehr stark an ähnliche Annahmen aus der zuletzt so populär gewordenen Evolutionären Psychologie. Dort ist ebenfalls der Ansatz, die Ausprägung der menschlichen Psyche auf ihren Nutzen zurückzuführen. So auch bei Hoffmann. Der allerdings interessiert sich nicht für den Nutzen, den ein bestimmtes Verhalten einmal hatte „“ damals im Fellkleid in der Höhle. Hoffmann sucht stets nach Möglichkeiten einer empirischen Überprüfbarkeit.

Und auch sein anderes Schlagwort ist gerade zum Modewort geworden: Antizipation. Kein Fußballkommentar ohne einen „antizipierten Pass“ und den entsprechenden „falsch antizipierten Laufweg“. Hoffmann unterlegt das Konzept der Antizipation allen Erkenntnisprozessen. Lernen wäre also: richtig zu antizipieren, wie die Umwelt auf mein Verhalten reagiert.

Ich gebe ein Beispiel: Das Gedächtnis kann man gemeinhin in prozedurales und deklaratives Gedächtnis unterscheiden. Also ein Gedächtnis für das „wie“ und eines für das „was“. Das trifft auch unsere Alltagserfahrung. Es ist etwas anderes, Fußball zu spielen, als über Fußball zu reden. Nicht derjenige, der am besten über Sex spricht, weiß auch am besten, wie der funktioniert. Das sind zwei getrennte Bereiche. Aus Hoffmanns Sicht ist das ein Problem. Denn deklaratives Wissen gibt es nicht. Alles Wissen ist dafür da, um Verhalten steuern zu können. Er wirft einen anderen Blick darauf: Das sogenannte deklarative Wissen ist auch Handlungswissen, aber für die „symbolische Welt“. Das Wissen ist also nicht einfach so da, sondern um beispielsweise gut über Fußball sprechen zu können. (Der ewige Vorwurf: Du mit deinen zwei Weizenbier hast gut reden „“ genau das ist auch ein Handlungswissen: wissen, wie man darüber redet.) Oder um sich in einem komplexen symbolischen Feld orientieren zu können.

Das klingt nun nach einem Kniff. Aber dieser Ansatz hat weitreichende Konsequenzen. Zum Beispiel, wenn man daran gehen will, zu erklären, wie der Mensch zu seinen Begriffen kommt. Die Abstraktion, so Hoffmann, die nötig ist, um zu einem Begriff zu kommen, setzt voraus, dass man weiß, was zu diesem Begriff gehört. Also, wenn ich mir die Menge der Tiere anschaue: warum nenne ich die „Tiere“? Ja, weil sie leben, sich fortpflanzen, sich bewegen etc. Aber woher wusste ich das, bevor ich zum Begriff kam? Wieso habe ich so über diese Menge von Entitäten abstrahiert? Hoffmann sagt, wir wenden bestimmte Begriffe an, und dann beobachten wir die Reaktionen auf unser Verhalten. Wenn das Kind einen Begriff falsch verwendet, wird es korrigiert zum (allereinfachsten) Beispiel. Das Verwenden von Begriffen führt zu Klassen von funktionaler Äquivalenz, also Begriffen, die in einem bestimmten Kontext (!) die gleiche Funktion haben. Wir antizipieren also, welche Reaktion kommen sollte, wenn wir „Fußball“ sagen und vergleichen das mit der tatsächlichen Reaktion; die in einem bestimmten Kontext eine andere sein könnte, wenn wir stattdessen „Sex“ gesagt hätten.

Einerseits lässt sich mit diesem Wissen nun leicht eine These aufstellen, wozu das Bewusstsein gut sei: Das Bewusstsein eignet sich offenbar um sehr komplexe Bereiche zu integrieren, zu reflektieren und so zu einem angemessenen Verhalten zu gelangen. Andererseits wird einsichtig, warum Hoffmann darüber im Grunde nichts sagt: Das geht über das hinaus, was eine Kognitive Psychologie (derzeit) sinnvoll leisten kann.
Und auch mit dem freien Willen wurde ich über den Hoffmann-Umweg versöhnt. Mit diesem Ansatz im Gepäck ist es vollkommen klar, weshalb die berühmten Libet-Experimente (und all deren Nachfolger) gar nichts darüber aussagen können: Wenn es so etwas gebe wie den freien Willen, dann ist er langsam, dann ist er nicht geeignet, um schnell erforderliche Handlungen schnell zu erledigen. Eine freie, bewusste Entscheidung ist etwas anderes als schnell einen Gegenstand zu ergreifen.
Da bietet Hoffmann dem Philosophen eine Brücke, wenn er behauptet, alle psychischen Prozesse ergäben nur Sinn, wenn sie funktional analysiert würden. Und er reißt die Brücke wieder ab, bevor er sie betreten hat, denn die Psychologie mischt sich bei ihm nicht ein. Sie bleibt dort, wo sie, gut überprüfbar, etwas aussagen kann.

Joachim Hoffmann: Vorhersage und Erkenntnis
ISBN-13: 9783801707057
Hogrefe-Verlag, Göttingen 1993
327 Seiten, broschiert, Illustrationen, graphische Darstellungen

Originalbeitrag von Christian Wiebe, November 2013

 

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