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Gegenwartslyrik in allen Facetten

der gelbe akrobat

In der Anthologie „Der gelbe Akrobat“ präsentieren Michael Braun und Michael Buselmeier 100 Gedichte mit poetologisch reflektierten Kommentaren


So schlecht kann heutzutage die Zeit für Gedichte in der öffentlichen Wahrnehmung gar nicht sein, wenn sogar Bundespräsident Horst Köhler anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von „lyrikline.org„, dem Internetprojekt für Gedicht-Originalrezitationen, im Oktober 2009 medienwirksam die Bedeutung der Poesie würdigte: „Warum sind für viele Menschen Gedichte so wichtig „“ und vorgelesene Gedichte erst recht? Weil Gedichte die dichteste, anspruchsvollste und subjektivste Art sind, Sprache zu gestalten, die Welt ins Wort zu fassen, die Existenz zum Ausdruck zu bringen. Gedichte sind kleine Widerstandsnester gegen die riesige Flut an Sprachmüll, der uns täglich aus allen Medien entgegenkommt.“
Auch wenn diese euphemistische Einschätzung der zeitgenössischen Lyrikrezeption vielleicht nicht mehr als eine kulturidealistische Beschwörungsfloskel war, lässt sich in der Tat beobachten, dass die Zahl der auf Papier publizierten Gedichtbände seit ein paar Jahren deutlich ansteigt, allerdings hauptsächlich im Portfolio der Klein- und Selbstverlage. Denn die im Zuge der Digitalisierung stark gesunkenen Kosten für Print-On-Demand lassen zumindest die in Standardformaten gedruckten Bücher zu überschaubaren finanziellen Risiken werden und weil ein Stück Leseholz neben den haptischen Annehmlichkeiten gegenüber Bildschirm und Plastikmaus vor allem eine vermeintlich bessere Reputation und Rezeption verspricht, blüht der Markt der Eitelkeiten im Lit-Bizz in oft blickverstellendem Wildwuchs „“ eben nicht immer im positiven Sinn von Köhlers Grußwort, sondern oft auf dem Mist windiger Geschäftemacher.

der gelbe akrobat

Deshalb ist auch bei etlichen Lyrik-Anthologien von Verlagen mit teilweise hochtrabenden Namen Vorsicht geboten, weil damit oft nur möglichst viele (Autoren-)Fliegen mit einer Klappe geklatscht werden sollen, etwa durch Druckkostenbeteiligungen, käuflich zu erwerbende Mindestabnahmemengen oder schlichtweg zur Aquise für weitergehende „Geschäftsbeziehungen“. Aus diesem Sumpf von Büchern-die-die-Welt-nicht-braucht ist es für Lyrikinteressierte oft schwierig, die ernsthaft und sorgfältig editierten Anthologien herauszufischen, die auch ästhetisch-intellektueller Wegweiser im Szene-Dschungel und Appetizer auf mehr sein können.

Ein solch anspruchsvolles Unternehmen hatten sich der Publizist und Suhrkamp-Autor Michael Buselmeier und der Lyrikspezialist Michael Braun vorgenommen, als sie nun für den Buchverlag des Leipziger „Poetenladen“ die Lyrik-Anthologie „Der gelbe Akrobat“ mit 100 deutschen Gedichten der Gegenwart zusammenstellten, um damit einen profunden Überblick der stilistisch und inhaltlich vielfältigen deutschsprachigen Lyrikszene zu vermitteln.

Michael Braun und Michael Buselmeier, die schon lange als engagierte Herausgeber und kompetente Kritiker deutschsprachiger Lyrik bekannt und „im Geschäft“ sind, ging es dabei nicht um ein buchhandelskompatibles Potpourri von „Greatest Hits“ aus deutschen Feuilletons, sondern um eine dezidiert subjektive Auswahl aus den Texten, die seit 1991 im Kulturteil der Wochenzeitung „Freitag“ aus Jahrbüchern und Literaturzeitschriften zusammengetragen und dort publiziert worden waren.

Diese Vorselektion minderte sicher die Gefahr des Sich-Verlierens in der überbordenden Materialfülle, ließ dabei aber zwangsläufig viele wichtige und erfrischende Stimmen, vor allem der jüngeren Lyrikszene, außen vor. Immerhin reichen sich in dieser Sammlung viele „Groß-Dichter“ seitenweise die Verse und neben bekannten Namen finden sich viele unbekannt gebliebene, teilweise vergessene, oft aber wortmächtige Autoren aus dem „literarischen Unterholz“ mit teilweise bemerkenswerten Gedichten. Dass diesen die verdiente Reputation versagt blieb, zeige laut den Herausgebern, „wie ungerecht die selektierende Literaturkritik häufig verfährt“. Konsequenterweise haben die beiden bei ihrer Textauswahl „literaturkritische Kurzschlüsse“ und „literaturkritischen Opportunismus“ zu vermeiden versucht und stattdessen, oft auch spontan, das „jeweilige ästhetische Erregungspotential“ des Autors zugrunde gelegt.

Die thematische Spannweite der ausgewählten Texte reicht von der „Naturlyrik ohne falsche Behaglichkeit“ der Martha Saalfeld über Literaturbetriebs-Verweigerer wie den „verkannten“ Wolfgang Dietrich bis zu dem Wiener Sprachanarchisten und „Nestbeschmutzer“ Ernst Jandl, von dezidiert politisch und gesellschaftskritisch orientierten Autoren wie Volker Braun und dem umstrittenen kroatischen Reaktionär Marian Nakitsch bis zu Hilde Domins leiserer Widerstandshaltung, die sich im „Dennoch jeden Buchstabens“ als Wille zur Selbsterhaltung „im kleinen Ton meiner Stimme“ zeige. An Bord sind gemäß dem ,Arche-Noah-Prinzip“˜ anthologischer Erfassung Ost- und Westdeutsche, Österreicher, Schweizer und als Stellvertreter der rumäniendeutschen Sprachinsel auch Autoren der „Aktionsgruppe Banat“, aus welcher ja auch Herta Müller stammt (die allerdings hier nicht vertreten ist).

Soweit allerdings wäre diese Anthologie ein eben löbliches, aber noch nicht aus der überschaubaren Anzahl ähnlich engagierter Projekte herausragendes Unterfangen. Ihren besonderen Reiz gewinnt die 360 Seiten starke Anthologie aus der Recherche- und Gedankenarbeit, mit der zu jedem einzelnen Gedicht ein aufschlüsselnder und interpretatorischer Kommentar geschrieben wurde, ohne dabei irgendwann in die feuilletonistische Phrasen-Falle zu stolpern oder in redundanten Klappentext-Jargon zu verfallen. Aus jedem Text wird das Eigenständige herausgearbeitet, der persönliche Hintergrund des Autors (soweit zugänglich) mit dessen soziopolitischen Lebensbedingungen beleuchtet, so dass die hermeneutischen und textkritisch-ästhetischen Deutungsebenen mit formanalytischen und poetologischen Annäherungen ein kompaktes und gleichzeitig komplexes Verständnis der jeweiligen Gedichte ermöglichen, ohne sich im akademischen Duktus zu verheddern.

In diesen Interpretationsminiaturen entwickeln die Herausgeber eine Vielfalt an fundierten Überlegungen, die sich wie Köhlers lyrikline-Grußwort auch mit der Relevanz von Lyrik in einer Zeit beschäftigen, in der allerdings im Gegensatz zur präsidialen Botschaft „angesichts der sinnlichen Attraktivität der Massenmedien literarische Texte im Kalkül der Mächtigen keine Rolle mehr spielen“.

So erscheint eine der Grundthesen Brauns und Buselmeiers im Kommentar zum titelgebenden Gedicht „Der gelbe Akrobat“ von Herbert Heckmann: „Der Dichter als Narr, der die Wahrheit sagt, hat ausgedient. Keiner der Unterhaltungssüchtigen mag ihm noch zuhören“, nachdem zu Birgit Kempker schon in ähnlichem Sinn notiert worden war: „Es ist kaum noch vorstellbar, dass lyrische Texte zum Gegenstand öffentlicher Erregung oder gar juristischer Auseinandersetzungen werden können.“

Die Herausgeber tauchen dabei immer wieder in die (Un-)Tiefen literaturphilosophischer Überlegungen, etwa zum Tabu der Metaphysik und des Vorzeitlichen, Animalischen bei den meisten Gegenwartspoeten, weil „von den pflichtgemäß ernüchterten Dichtern unserer Tage solche dionysischen Programme meist des Irrationalismus verdächtigt werden, der vorsätzlichen Flucht vor den Zeichensystemen einer medial beschleunigten Gegenwart.“

Am Beispiel Karl Krolow moniert Braun, wie von manchen Dichtern sogar „dem klassischen Topos der Lyrik, der Liebe, in böser Nüchternheit jede sentimentale Illusion ausgetrieben“ wird, in Krolows Fall freilich immer gewürzt mit ironischer Gesellschaftskritik „in einem gemäßigten Modernismus, der sich bei allen surrealistischen Neigungen nie ins Hermetische verlor.“

Dazu immer wieder Kennerblicke aufs „Eingemachte“ der Literaturtheorie wie etwa der ,Sprachreflexiven Dekonstruktion“˜ am Beispiel Ulf Stolterfoht: „Zum Konzept der lyrischen De-Montage und De-Komposition gehört es auch, dass das eitle Auftrumpfen mit Reim und Metrum ironisch konterkariert wird.“ Mit der Gefahr, dass Lustigkeits-Überschwang unfreiwillig ins Kabarettistische kippen kann, hinüber zu „einer gewissen ironischen Überanstrengung, ja Redundanzen-Überschwemmung.“

Natürlich muss man nicht jeder Interpretation zustimmen, zumal auch ein Lyrik-Insider kaum alle Autoren kennen wird, aber glaubwürdig und authentisch erscheinen die Anmerkungen nicht zuletzt deshalb, weil sie auch die Schwächen einiger Texte bloßlegen, denn die Herausgeber haben sich nicht davor gescheut, den einen oder anderen „Durchhänger“ mit auf Tour zu nehmen. Dabei kommentieren sie sich ihre Auswahl nicht nur schön, sie können auch „böse“, wenn sie etwa den einen oder anderen Autor der „biederen Reimerei“ überführen, süffisant manche Ost-Dichter als „westwärts orientierte Leichtfüße mit einer Tendenz zum Witzeln“ karikieren und dabei auch keineswegs die Prominenz verschonen, wenn sie beispielsweise bei Peter Rühmkorf die „Alterslust vieler Dichter am Kalauer, an der nächstliegenden Pointe“ als „oft stupides Durchexerzieren von altherrenneurotischen Gelegenheitspoemen mit gewaltsam lustigen Capriccios“ konstatieren.

Auch Anekdotisches wie der Fake vom vermeintlichen „poetischen Waldgänger George Forestier“, der Anfang der 1950er-Jahre von der Literaturkritik trotz höchst mittelmäßiger Gedichte distanzlos als „zweiter Wolfgang Borchert“ gepriesen, von „Akzente“ publiziert und von der deutschen Nachkriegsjugend bejubelt wurde, haben B&B ausgegraben. Tatsächlich stand hinter diesem fiktiven Autorennamen der gerissen kalkulierende Werbeberater Karl Emerich Krämer, der nach seiner Enttarnung als Schwindler von der düpierten Literaturkritik fallen gelassen wurde, obwohl er weiterhin sein „trübes Gebräu aus schiefen Metaphern“ unter die Leute zu bringen versuchte.

Doch nicht nur gegen die Kritikerzunft wird immer wieder mal gestichelt; so stellt Buselmeier der in gleichnamigem Sartorius-Gedicht gefeierten „Freundschaft der Dichter“ seine eigene Erfahrung von der „Wolfswelt“ der Schriftsteller entgegen: „Wer Mitglieder dieser Berufsgruppe ein wenig kennt, weiß, dass vor allem zähes Konkurrenzdenken deren Verhaltensweisen bestimmt.“

Manch einer mag in dieser Anthologie vielleicht die „Stars“ der zeitgenössischen Pop- und Slam-Lyrik vermissen, aber da die mittlerweile zu einem beachtenswerten eigenständigen Genre evolutioniert ist (wenn auch schon mit kulturindustrieller Vereinnahmungstendenz), hätte eine diesbezügliche Erweiterung den Rahmen dieser Unternehmung gesprengt. Allerdings könnte man, und sei es nur, um einen gesunden Schuss literaturkritische Boshaftigkeit zu pflegen, den hier vertretenen Albert Ostermaier mit seinen „literarischen Macho-Posen und schnoddrigem Zeitgeist-Vokabular“ dort verorten und wäre somit auf dieser Ebene auch bedient.

Die Herausgeber vermeiden zwar eine grundsätzliche literaturwissenschaftliche, poetologische Abgrenzungsdiskussion zwischen den ausdifferenzierten und oft szenegebundenen lyrischen Codes, doch zur Handhabung des lyrischen Instrumentariums nach der Jahrtausendwende möchte Braun anhand des jungen Schweizer Dichtertalents Raphael Urweider immerhin eine Tendenz zu „kühl-diagnostisch wie Durs Grünbein, naturwissenschaftlich versiert wie Raoul Schrott und so ironisch-distanziert wie der alte Benn“ erkennen und folgert, der „Habitus des abgeklärten Bewusstseinspoeten entspricht nach der Jahrtausendwende offenbar mehr den jüngsten Anforderungen auf Zeitgenossenschaft als jene altehrwürdige Lyrik der Gefühlsunmittelbarkeit, der es [ „¦ ] ganz auf das innere Empfinden, nicht auf den äußeren Gegenstand ankommt.“

Ein aufmerksamer Leser des „Gelben Akrobat“ wird in vielen dieser „Kommentare“ solche poetologische Thesen entdecken, in denen sich die schillernden Facetten moderner Lyrikproduktion und -rezeption widerspiegeln. Dadurch erweitert diese Anthologie nicht nur den Wahrnehmungshorizont des lesenden Amateurs (im Sinne von „Liebhaber“), sondern eröffnet auch interessante, gelegentlich sogar amüsante Interpretationsperspektiven für den oft eingefahrenen Literatur-Diskurs und die kritische Lyrikrezeption in Literaturredaktionen oder Lyrikpreis-Jurys.
Und ein aufmerksamer Leser wird nach diesen 100 so unterschiedlichen Gedichten wohl auch dem von Braun und Buselmeier gleich zweimal zitierten Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer zustimmen, der einst in seiner Abhandlung über die „Wissenschaft des Schönen“ philosophierte: „Die lyrische Poesie ist ein punktuelles Zünden der Welt im Subjekt.“.

Michael Braun / Michael Buselmeier (Hg.):
Der gelbe Akrobat. 100 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert.
Poetenladen, Leipzig 2009.
360 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783940691088

Rezension als PDF

© Werner Friebel & Literaturkritik.de 2009

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